Iris Baumüller wuchs in Köln, Düsseldorf, London und Johannesburg auf. In Frankfurt studierte sie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und arbeitete anschließend als Regieassistentin für deutsche und internationale Film- und Fernsehproduktionen. 2002 gründete sie „Die Besetzer Casting“ in Köln. 2015 eröffnete sie ein weiteres Büro in Berlin. Iris Baumüller ist Mitglied des Bundes- verband Casting (BVC), dem International Casting Directors Network (ICDN), der Deutschen Filmakademie und der Europäischen Filmakademie (EFA). Sie verantwortete u. a. Projekte wie die Kultserien „Stromberg“, „Barbarians“, „4 Blocks“, „Tatort Weimar“ oder auch deutsche Kino-Blockbuster wie „Nightlife“. 2016 erhielt Iris Baumüller den Deutschen Schauspielpreis für das Casting des „Besten Ensembles“ für die VOX-Serie „Club der roten Bänder“. 2017 erhielt sie erneut den Deutschen Schauspielpreis für das Casting des „Besten Ensembles“ von „Wellness für Paare“ unter der Regie von Jan Georg Schütte. Ebenfalls in 2017 erhielt sie den DAfF Castingpreis für die Mafia-Serie „4 Blocks“ unter der Regie von Marvin Kren (TNT-Series). Mit dem Film „Weil wir Champions sind“ produzierte Constantin Television für TVNow im Sommer 2021 eine Inklusions- komödie, bei der Iris Baumüller die Besetzung übernahm.
Wie kam das Projekt „Weil wir Champions sind“ zu Dir?
Die Produzentin Nina Viktoria Philipp von Constantin Film hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, dieses Projekt zu besetzen. Ich glaube, dass ich dafür angefragt wurde, weil ich für den Film „Die Goldfische“ schon Menschen mit Behinderungen besetzt hatte.
Eine Deiner Mitarbeiterinnen, Jacqueline May, war für Dich als Ratgeberin sehr wichtig. Warum?
Jacqueline May habe ich seit Mitte 2020 als feste Mitarbeiterin neben Katharina Göttsche angestellt, weil sie Erfahrungen auf dem Gebiet der Inklusion hat. Sie leitet ehrenamtlich eine Film-AG für Menschen mit und ohne Behinderung und ist gut vernetzt. Zusammen mit Nina Victoria Philipp, dem Regisseur Christoph Schnee und seinem Regieassistenten Sven Harjes, die auch nicht unbewandert auf dem Gebiet waren, haben wir einen Workflow eines bundesweiten Castings für Menschen mit Behinderung abgestimmt.
Wie hast Du Dich auf die Castings vorbereitet?
Zunächst habe ich mir Gedanken gemacht, wen ich als Hauptrolle des Trainers der Basketballmannschaft besetzen möchte. Wotan Wilke Möhring stand von Anfang an oben auf meiner Vorschlagsliste, weil er ein toller Schauspieler ist, dem ich sofort den Basketballtrainer glaube und von dem ich wusste, dass er auch den Spirit des Films tragen wird.
Wie seid ihr beim Casting vorgegangen? Gab es Hindernisse?
Da die Zeit sehr knapp war, hat Sven Harjes, der auch bereits im Inklusionsbereich gearbeitet hat, alle potenziellen Darsteller*innen mit Behinderungen persönlich getroffen und Videointerviews geführt. Diese wurden dann von uns gesichtet, ausgewertet und die Favorit*innen zum Livecasting eingeladen. Dadurch hatte das ganze Projekt einen ganz besonderen Spirit, ähnlich wie beim „Club der roten Bänder“, wo es um krebskranke Kinder ging. Das sind generell Themen, die mich interessieren und zu denen ich einen persönlichen Bezug habe. Ein Problem war, dass wir wie immer zu wenig Zeit hatten und keine Produktion das Geld hat, eine Casterin zu engagieren, die ein Jahr durch Deutschland reist, um Menschen mit Behinderungen zu casten. Auch wenn ich das gern gemacht hätte. Daher wurde wie bereits erwähnt Sven Harjes beauftragt. Ein Casting ist immer ein umfangreicher Prozess, und dieses war noch umfangreicher. Es gab vieles zu beachten, da wir hauptsächlich Laien gecastet haben. Man kann zum Beispiel nicht einfach eine Einladung zum Casting an einen Menschen mit Behinderung schicken. Man muss auch die Eltern oder eine betreuende Person aufklären. Viele sind berufstätig, man muss also mit den Arbeitgeber*innen besprechen, ob sie überhaupt für Dreharbeiten freigestellt werden können. Es braucht ein ganz genaues Briefing, Coaching zur Rollenvorbereitung sowie einen Coach und Betreuer*innen, ggf. Angehörige mit am Set.
Findest Du Schauspieler*innen mit Behinderungen in den gängigen Datenbanken?
Ja, seit geraumer Zeit finde ich dort Schauspieler*innen mit Behinderungen. Es gibt zum Beispiel die Agentur „Rollenfang“, die Schauspieler*innen mit Behinderungen vertritt. In unserem Fall haben wir eine funkensprühende gemischte Mannschaft mit den unterschiedlichsten Charakteren gesucht, die Schauspiel- und Basketballskills haben.
Stand es zur Diskussion, nichtbehinderte Schauspieler*innen für die Rollen zu besetzen?
Nein, das stand nicht zur Debatte. Von uns allen sowie auch von Seiten des Senders RTL war von Anfang an gewünscht, dass wir für dieses Projekt Menschen mit Behinderungen besetzen.
Wie stehst Du dazu, dass Schauspieler*innen ohne Behinderungen Menschen mit Behinderung spielen?
Castings müssen gut geplant und strukturiert werden. Gerade bei besonderen Stoffen mit speziellen Casting-Anforderungen muss ein längerer Vorlauf für Recherche, Organisation und Coaching einkalkuliert werden. Ich arbeite als Casting Director im Grunde zweigleisig: Ähnlich wie bei dem Film „Die Goldfische“ caste ich Menschen mit und ohne Behinderungen und plane jedes Mal auch ein Coaching mit ein. Es ist wichtig, individuell abzuwägen. Meiner Erfahrung nach sind zum Beispiel Menschen mit Downsyndrom sehr feinfühlig und schauspielerisch talentiert, sie versetzen sich sehr in ihre Rolle und den Stoff, und es kann vorkommen, dass sie Fiktion und Realität schwer unterscheiden können. Das kann dazu führen, dass sie ohne einen geschulten vertrauten Coach nach dem Dreh verstört sind, und es ihnen schwerfällt, in den Alltag zurückfinden. Von Schauspieler*innen wird wiederum oft erwartet, dass sie sich innerhalb kürzester Zeit auf eine Rolle eines Autisten oder einer Blinden vorbereiten. In den Produktionsplänen wird selten einkalkuliert, dass die Rollenvorbereitung fürs Casting und den Dreh einen adäquaten Vorlauf benötigen. Am Ende gilt für mich, dass der/die beste Schauspieler*in die Rolle bekommt.
Hältst du die deutsche Film- und Fernsehbranche für divers?
Ich halte sie für noch nicht divers genug. Das fängt mit einem gut recherchierten Drehbuch an, dass unsere vielschichtige Gesellschaft widerspiegelt und auch redaktionell gewollt ist. Wenn ich diese Rollen dann besetzen darf und beispielsweise libanesische oder algerische Schauspieler*innen suche, bedarf es einer langen Recherche, auch im Laienbereich, da es noch immer zu wenig ausgebildete Schauspieler*innen mit Migrationshintergrund gibt bzw. diese bis dato nur in Nebenrollen Dreherfahrungen sammeln durften. Diverse Schauspieler*innen müssen eine Möglichkeit bekommen, gesehen und gefunden zu werden, auch in den Datenbanken. Durch unsere umfangreichen Castings und Spezialrecherchen wie zum Beispiel bei „4 Blocks“ erweitern Casting Directors den diversen Schauspielhorizont. Man stößt aber auch mal an seine Grenzen. Es war zum Beispiel 2010 schwer, einen echten Transmann für „Romeos“ zu finden. Viele aus der Transcommunity wollten auf gar keinen Fall vor die Kamera, damals war die LGBTQ-Bewegung noch nicht so sichtbar und selbstbewusst wie heute. Wir haben nach einem langen Castingprozess Rick Okon besetzt. Er war ein Geschenk und sein Spiel wundervoll wahrhaftig. Zusammen mit Giles Foreman und der Regisseurin Sabine Bernardi hat er sich akribisch darauf vorbereitet.
Was bedeutet für Dich Inklusion?
Als Casting Director bedeutet Inklusion für mich, völlig frei und in jede Richtung zu denken. Beim Casting die besten Bedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung zu schaffen, detailliert zu recherchieren und entsprechend zu briefen – immer offen und nah am Menschen zu sein.
Du bist im Bundesverband Casting (BVC), der schon vor Jahren einen Aufruf zur Diversität gestartet hat. Inwiefern beschäftigt Ihr Euch noch mit dem Thema?
Wir versuchen, viel auf die Beine zu stellen: Es gibt zum Beispiel eine Arbeitsgruppe zum Thema Diversität und eine zum Thema Inklusion. Wir organisieren Podiumsdiskussionen und pflegen einen regen Austausch mit Drehbuchautor*innen. Aber es geht auch um Themen wie die Vergütung von Schauspieler*innen, warum es weniger Rollen für sie gibt, die dann auch noch schlechter dotiert sind. Oder auch warum es so wenig Frauenrollen für ab 40 aufwärts gibt. Das haben wir im Verband schon vor Jahren losgetreten.
Erhalten Menschen mit Behinderung eine Tarifgage?
Ich denke, dass die wenigen ausgebildeten Schauspieler*innen mit Behinderung eine Tarifgage erhalten, im Bereich der Laienschauspieler*innen müssten unbedingt Gespräche geführt werden.
Kennst Du den Satz „Wir wollen die Zuschauer*innen nicht überfordern?“
Diese Formulierung kenne ich nicht, aber ich hatte natürlich auch schon Projekte, wo ich divers besetzen wollte und mir gesagt wurde, das könne man inhaltlich nicht machen. Man hört zum Beispiel oft den Satz aus der Redaktion oder vom Sender: „Der/die Schauspieler*in passt nicht in einen regionalen Kontext.“ Was oft Unsinn ist, denn natürlich gab es beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund in der ehemaligen DDR oder auch in einem bayerischen Dorf. Da ist die Realität oft diverser als die Fiktion.
Bist Du für eine Diversitätsquote?
Nein, es sollte meiner Meinung nach keine Quote geben, aber man sollte regelmäßig einen Spiegel herausgeben und Guidelines zum Besetzen schaffen. Bei einer Quote läuft man immer Gefahr, in ein Korsett geschnürt zu werden. Um eine Quote durchzusetzen, muss man erst einmal schauen, ob man diese überhaupt erfüllen kann. Wenn zum Beispiel eine 30-Prozent-Quote von Schauspieler*innen mit Behinderung vorgeschrieben ist, müssen wir erst einmal prüfen, ob wir überhaupt so viele Schauspieler*innen mit Behinderung haben. Ich denke nicht, also müssen wir den Nachwuchs an den Schauspielschulen noch mehr stärken, um diese Quote zukünftig zu erfüllen. Oder man muss eben Zeit und Geld für ein Laiencasting einkalkulieren. Aktuell hat sich viel von Amerika nach Deutschland bewegt, und ein diverses Casting ist in den meisten Projekten erwünscht und sogar oft Bedingung.
Tauscht Du Dich mit Casting Directors aus anderen Ländern über das Thema Diversität aus?
Ich verfolge natürlich die Entwicklungen außerhalb von Deutschland. Gerade in Amerika und Großbritannien kommen die sogenannten Casting-Breakdowns, die öffentlich ausgeschrieben werden, ohne Angabe von Herkunft, sexueller Orientierung, Geschlecht oder eben Behinderungen aus. Daran haben wir uns ein Beispiel genommen und das auch in Deutschland versucht. Aber da ist noch viel Luft nach oben, was die Selbstverständlichkeit angeht. Gerade findet eine Überkommunikation statt, derer es bedarf, um ein Bewusstsein zu schaffen, damit Diversität vor und hinter der Kamera zur Normalität wird.
In unserer Rubrik All:inclusive findet Ihr weitere Interviews zu „Weil wir Champions sind“ – Christoph Schnee und Nina Philipp (Regie und Produktion) und Dominik Klingberg (Coaching).
Das Besetzer-Team: Iris Baumüller, Katharina Göttsche, Jacqueline May © Heike Sieber & Johannes Döring | „Weil wir Champions sind“ © Constantin/Tom Trambow |
Telefon: | 0221 - 94 65 56 20 |
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