Das Büro für vielfältiges Erzählen wurde 2019 von Johanna Faltinat und Letícia Milano gegründet. Ihre Expertise liegt in der Schnittstelle zwischen Dramaturgie und dem Wissen über Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung. Sie begleiten den kreativen Prozess und unterstützen dabei, den Blick auf die Machtstrukturen in der Gesellschaft, auf die Branche und auf die eigene gesellschaftliche Position zu schärfen.
Neben dramaturgischen Beratungen und Workshopformaten sitzen sie vielfach auf Panels, halten Keynotes und moderieren Formate. In ihrer Arbeit unterstützen sie Menschen aus der Medienbranche, sich ihrer dramaturgischen Entscheidungen bewusst zu werden. Besonderen Fokus legen sie vor allem auf das Potential, das im Mitdenken vielfältiger Perspektiven steckt.
Im folgenden Interview sprachen wir mit den beiden über ihre tiefe Leidenschaft für die Integration von Diversität in der Dramaturgie, die weit über traditionelle Ansätze hinausgeht. Außerdem erläutern uns die beiden, wie ihr gemeinsames Engagement im Büro für Vielfältiges Erzählen dazu beiträgt, narrative Strukturen zu verändern und mehr Inklusion vor und hinter der Kamera zu fördern.
Wie kam es zur Gründung vom Büro für vielfältiges Erzählen?
Letícia: Wir haben uns 2016 bei der Akademie für Kindermedien kennengelernt, wo Johanna gearbeitet hat und ich Stipendiatin war. Wir haben schnell zusammengefunden, zuerst über das Thema Feminismus. In langen Gesprächen über die Rolle von Frauen in der Filmindustrie vor und hinter der Kamera haben wir schon gespürt, dass das Thema Diversität überall in der Luft lag, aber noch in den Kinderschuhen steckte.
Johanna: Ich habe in der Zeit auch noch in der Kulturellen Bildung gearbeitet. Da waren die Diskurse um Diversität schon viel weiter. Dieses Wissen wollte ich dann auch in die Filmbranche, besonders in die Kinderfilmbranche bringen. Das wollte ich jedoch nicht alleine machen, denn es braucht immer mehrere Perspektiven. So habe ich Letícia eingeladen, mit mir zusammen das Projekt zu starten. Wir haben uns ein halbes Jahr Zeit genommen, um ganz viel Recherche zu betreiben.
Letícia: Ich möchte hier noch etwas hervorheben: Johanna hatte dieses immense Wissen über das Thema, sie hat viel gelesen und sich schon viel früher als ich informiert. Sexismus und auch Queerfeindlichkeit waren zwar durchaus präsent in meinem Leben, auch damals schon in Brasilien, aber zu Rassismus hatte ich keinen Zugang. In meiner Vorstellung konnte ich als weiße Person gar nicht davon betroffen sein. Ich hatte nur ein diffuses Gefühl. Die vielen Gespräche waren auch eine sehr persönliche Reise, bevor ich Expertin wurde. Ich finde das wichtig zu sagen, weil nicht jeder betroffene Mensch auch Experte*in für das Thema ist oder sein muss. Für mich war dieser Prozess zu Beginn unserer Zusammenarbeit, den ich zwischendurch durchaus auch hinterfragt habe, um mich und meine Privatsphäre zu schützen, sehr wichtig.
Ihr habt mit Eurer Beratung in Diversitätsbelangen Pionierarbeit geleistet.
Wie haben sich daraus Eure ersten Workshops entwickelt?
Johanna: Angefangen haben wir an dem Ort, an dem wir uns kennengelernt haben, also bei der Akademie für Kindermedien. Ein Vorteil war natürlich, dass wir die Abläufe dort schon kannten. Danach kam ein wichtiger Auftrag für einen Workshop für die Mitglieder des Dramaturgie-Verbandes VeDRA. Dort waren viele tolle Menschen, die großartige Multplikator*innen waren. Danach begannen die Anfragen von Sendern, Produktionsfirmen und Förderungen.
Letícia: Anfangs gingen wir davon aus, dass die Workshops in Präsenz stattfinden werden, denn man braucht den ganzen Körper für diese Arbeit. Dann kam die Pandemie und wir mussten alles online stattfinden lassen. Es macht mich bis heute sehr stolz, dass wir es trotzdem geschafft haben, in diesen Onlineräumen eine gute Vertrauensbasis aufzubauen, sodass die Leute das Mäandern zwischen politischen Inhalten, Filminhalten und dem Persönlichen ohne Berührungsängste ausleben konnten. Als dann Workshops in Präsenz wieder möglich waren, kamen wir kurz ins Stocken und merkten, dass wir uns umstellen müssen und nun andere Dinge beachten müssen. Das war auch ein wahnsinniges Learning von pädagogischen Methoden, die wir in dem einen oder in dem anderen Raum einsetzen können.
Wer sind Eure Auftraggeber*innen, Teilnehmer*innen, die Euch buchen?
Letícia: Ganz kurz: Wir machen Workshops für Leute, die Lust dazu haben. Egal wo wir hingehen, ob zu Sendern oder Produktionsfirmen, das passiert immer auf einer freiwilligen Basis. Wir haben Lust auf alle Bereiche, aber wir sind natürlich im Film- und Fernsehbereich am stärksten unterwegs. Wir waren auch schon bei Literaturfestivals, haben hin und wieder Anfragen aus dem Synchronbereich, der Verlagsbranche oder dem Hörspielbereich …
Johanna: … von Filmförderungen haben wir auch Anfragen, sowohl die Gremien als auch die Referent*innen zu fördern. Auch Streaming-Dienste haben uns gebucht. Da hatten wir zum Beispiel interne Workshops mit den Teams und dramaturgische Beratungen in den Lektoraten, um eine gemeinsame Sprache zu finden, wie über Diversität gesprochen wird. Ganz besonders freut uns das Interesse von Filmhochschulen.
2019 wurde die Studie „Vielfalt im Film“ vorgestellt. Hat sich Eure Arbeit durch diese neue Faktenlage verändert?
Johanna: Zahlen sind schon immer eine wichtige Arbeitsgrundlage für uns gewesen. Wir haben uns ganz stark sowohl mit dem, was das Statistische Bundesamt liefert, aber auch mit den europäischen Studien über Queerness in Europa auseinandergesetzt. Die Studie „Vielfalt im Film“ oder auch die „MaLisa“-Studie waren weitere Belege für die Wichtigkeit unserer Arbeit. Außerdem haben weitere Ereignisse wie die rassistischen und antisemitischen Anschläge von Hanau und Halle und der Mord an George Floyd auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene das Bewusstsein für Rassismus steigen lassen, das für unser Anliegen eine wichtige Grundlage ist.
Welchen spezifischen Ansatz verfolgt Ihr beim vielfältigen Erzählen?
Und was macht Euch beide als Team besonders stark und effektiv?
Johanna: Wir betrachten Diversität als ein dramaturgisches Instrument. Sie ermöglicht es uns, Geschichten zu erzählen, die wir noch nicht gehört haben, sowohl in der Erzählweise als auch in den Perspektiven. Oft wird das Einbringen von Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung als etwas gesehen, das verschließt und verbietet. Dabei öffnen diese Themen gerade und fördern die Kreativität. Ich denke, unsere wichtigste Methode ist die, aus der sich unsere Zusammenarbeit auch ergeben hat: der Dialog.
Letícia, was schätzt Du an Johanna am meisten?
Letícia: Es sind so viele Dinge, aber ich glaube, am wichtigsten ist der Raum, den sie mir lässt. Für all meine Ausschweifungen und die Möglichkeit, auch mal Dinge auszusprechen, die noch nicht fertig gedacht sind. Manchmal sind sogar eher Gefühle als Gedanke. Ich spüre immer, dass Johanna sehr genau hinhört und die Geduld hat für diesen Prozess des Findens.
Und Johanna, was schätzt Du an Deiner Kollegin besonders?
Johanna: Ich bin immer wieder sehr gerührt, mit Letícia eine Person gefunden zu haben, die den Prozess so liebt und keine Lust hat, stehen zu bleiben. Wir hätten ja auch einfach dabei bleiben können, Dinge zu reproduzieren, zu denen andere schon geforscht haben. Letícia ist immer gefühlt zwei Schritte, zwei Gedanken voraus, lässt aber auch mir meinen Raum, mal stehen zu bleiben, ein Störgefühl, was ich noch nicht verbalisieren kann, auszuhalten. In diesem Prozess, der sich mittlerweile sehr routiniert anfühlt, sind wir eben in der Lage, Dinge wirklich zu begreifen und zu entwickeln.
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Johanna Faltinat ist freie Dramaturgin. Sie berät vor allem Film- und Serienprojekte und forscht aus einer queer-feministischen Positionierung zu Diversität als dramaturgisches Instrument. Außerdem engagiert sie sich im Vorstand des Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V. für weniger Adultismus in der Medienbranche und im Netzwerk Film und Demokratie gegen demokratiefeindliche Angriffe. |
Letícia Milano ist Autor*in und Dramaturg*in. In Brasilien hat Letícia als Regisseur*in und Dramaturg*in beim Theater gearbeitet. Nach der Migration nach Deutschland studierte Letícia Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) . Storytelling begleitet Letícia in jedem Lebensumstand. Letícia schreibt Serien, Hörspiele und Filme, kuratiert, ist Teil diverser Jurys und Gremien, berät Stoffe und forscht zu Diversität als dramaturgisches Instrument. |
Mit welchen Ansprüchen geht Ihr an Eure Arbeit ran?
Johanna: Wir begleiten Projekte natürlich gerne schon in einem sehr frühen Stadium, also sei es in einem Exposé, einem Treatment oder auch einer ersten Drehbuchfassung. Das Schöne daran ist, dass wir dann unser Team je nach Gebiet erweitern. Wenn aus einer Betroffenheit erzählt wird, benötigt es eine große Professionalität. Es darf ja nicht nur bei dem eigenen Erleben bleiben, sondern es muss auch eine Übertragung in eine Fiktion stattfinden, auch um sich selbst zu schützen. Die Unterscheidung ist also: Kannst du das erzählen, nicht darfst du das erzählen. Hier wollen wir natürlich möglichst früh ansetzen und uns viel Zeit für die Entwicklung nehmen. Wir haben auch die Beobachtung gemacht, dass durchaus neue Stimmen in die Branche vordringen, häufig jedoch immer wieder die klassische Heldenreise als Erzählweise gewählt wird. Hier wollen wir ansetzen und auch Lektor*innen fortbilden, sodass eine Sensibilisierung und Professionalisierung stattfindet, um Stoffe schon früh entsprechend zu beurteilen. Denn hier ist die eurozentristische, von Hollywood geprägte Dramaturgie oft eine Schablone, der alle Projekte unterworfen werden.
„Der Körper“ ist ein wichtiges Thema in Euren Workshops und in Eurer Forschung.
Gibt es Methoden oder Techniken, die Ihr im Laufe der letzten sechs Jahre dafür entwickelt habt?
Letícia: Selbst wenn die Andersheit nicht sichtbar ist: Der Unterschied zwischen „Norm“ und „nicht Norm“ wird in unserer Gesellschaft andauernd gezogen. Nicht jeder Raum ist ein sicherer Raum. In welchen Räumen können PoC oder Schwarze Menschen sich sicher fühlen? Wie breit muss eine Tür sein, wenn ich mit dem Rollstuhl da durch muss? So etwas haben wir unter dramaturgischen Gesichtspunkten untersucht: Was bedeutet es, in dieser Gesellschaft einen Körper zu haben, der nicht als Norm akzeptiert wird, der immer in irgendeiner Form ausgestellt ist? Deswegen sprechen wir in der Dramaturgie sehr gern von Körpern, die im Raum agieren. Die Körper von marginalisierten Menschen werden permanent beobachtet, begutachtet und angegriffen. Dabei geht es uns gar nicht darum, dass in jedem Film das Thema Diskriminierung erzählt wird. Es geht darum, was Diskriminierung mit den Figuren macht. Das sind Dinge, die in dem Körper eingeschrieben sind. Es ist die Angst vor bestimmten Räumen und die Methoden und Strategien, damit umzugehen. Um diese Fakten herum haben wir angefangen, ein dramaturgisches Modell zu entwickeln, das tatsächlich von der Heldenreise abweicht, weil die Heldenreise eine meritokratische, kapitalistische und patriarchale Erzählung ist: Eine Person steht für ihr eigenes Glück und rettet vielleicht ganz allein die ganze Welt. Das sind aber nicht die Narrative, die wir für unsere Zeit brauchen.
Johanna: Wir haben uns auch von verschiedenen sozialwissenschaftlichen und literarischen Modellen und Ansätzen inspirieren lassen. Unser dramaturgisches Modell bezog sich lange nur auf die Figuren-Entwicklung, hierzu haben wir zuerst geforscht. Dann kamen auch Settings und Handlung dazu, weil wir für ein vollständiges dramaturgisches Modell alle Aspekte, die im audiovisuellen Bereich relevant sind, benötigen. Ganz heruntergebrochen ist das: Körper in Raum Zeit.
Ihr bietet also nicht nur Sensitivity Reading sondern eher Sensitivity Scripting an?
Johanna: Der Begriff „Sensitivity Reading“ ist bei vielen Entscheider*innen verknüpft mit „Verbot“. Uns geht der Begriff nicht weit genug. Es braucht eine machtkritische Haltung, um diversitätssensibel zu schreiben. Für die Überprüfung braucht es dann einen diversitätskritischen Blick. Hier wird auch noch mal deutlich, wie wichtig es ist, sich selbst als Expert*in zu begreifen und nicht nur als Betroffene*r, um dann eine Haltung zu entwickeln.
Letícia: Ganz wichtig an dieser Stelle: Wir betrachten nie einen isolierten Aspekt eines Drehbuches – wir zählen alle Dimensionen, alle Kategorien. Zum Beispiel fokussiert man sich bei schwarzen Protagonist*innen oft zu sehr auf Rassismus, bei Menschen mit Behinderung zu sehr auf Ableismus, und vergisst andere Aspekte vollkommen. Wir haben bisher über 60 Aufträge als dramaturgische Beratung übernommen. In keinem wurden wir gebeten, darauf zu achten, wie Weiblichkeit im Stoff dargestellt wird. Das ist krass, weil Weiblichkeit ja meistens eine sehr stereotypisch dargestellte Dimension der Identität ist. Durch die Zählung merken wir also recht schnell, welche Themen wichtig sind. Wir sind nicht per se gegen Stereotype, sondern gegen die unbewusste Nutzung von Stereotypen. Eine Reproduktion, ohne nachzudenken, kann sehr gewaltvoll wirken. Wir fragen uns daher oft: Was hilft ein Projekt, in dem zum Beispiel Behinderungen super dargestellt sind, aber die weiblichen Rollen lediglich sexistische Bilder reproduzieren?
Wie wichtig ist es, Expertin der Lebenswelt zu sein, um effektiv in Eurem Bereich zu unterrichten und zu beraten?
Letícia: First things first: Wir sind alle schon mal betroffen gewesen, weil wir alle mal Kinder waren. Und Kinder werden oft adultistisch behandelt. Jedes Kind kennt die Situation, dass ein Erwachsener im Vorbeigehen über die Haare streicht.
Johanna: Die Erfahrung von Ausgrenzung ist eine wichtige emotionale Referenz. Ich denke, wir alle kennen das Gefühl, anders zu sein, nicht dazuzugehören, Dinge nicht zu verstehen, ausgelacht zu werden für etwas, was wir vielleicht gar nicht wahrnehmen. Diese Berührung mit der Grenze zur Normalität führt zu einer Sensibilität für Erzählungen von marginalisierten Figuren, die dann gar nicht unbedingt aus der eigenen Lebenswelt sein müssen. Ich glaube, Empathie kann man sich auch erarbeiten, aber es ist natürlich sehr viel einfacher, wenn man selbst betroffen ist, bestimmte Dinge passieren dann automatisch. Gleichzeitig wollen und sollen nicht alle Menschen, die diese Ausgrenzungserfahrung gemacht haben, auch als Expert*innen agieren müssen. Genau wie Toni Morrison gesagt hat: „Rassismus hält mich von dem ab, was ich eigentlich machen will“. Ich glaube auch nicht, dass es zu einer größeren Authentizität beiträgt, selbst betroffen zu sein. Authentizität ist ohnehin ein schwieriges Wort, wenn man über fiktionale Stoffe spricht. Wieso sollte jemand mit migrantischer Biografie nur über eigene Erfahrungen, aber nicht beispielsweise über die Nazizeit schreiben? Dann greifen schnell wieder dieselben unterdrückerischen Mechanismen, um von Marginalisierung betroffene Menschen auszuschließen. Deshalb haben wir Probleme mit dem Begriff Authentizität. Wir benutzen eher den Begriff Glaubwürdigkeit, weil er sich innerhalb der Erzählung bewegt.
Produktionen behaupten oft, das Publikum sei nicht bereit für bestimmte Themen. Stimmt Ihr dem zu?
Johanna: Ich glaube, dass zu viele Filme, vor allen Dingen, die dramaturgisch nach der Heldenreise funktionieren, keine Fragen stellen, die das Publikum wirklich emotional aktivieren. Meist wird am Ende eine Antwort auf eine Frage, die am Anfang des Films gestellt wurde, gegeben. Ich finde, das ist zum einen ermüdend und zum anderen auch paternalistisch.
Letícia: Wir hören von Produktionsseite immer wieder, dass die Leute in Krisenzeiten eskapistische Formate wollen. Ich möchte dem widersprechen: In Zeiten der Krise brauchen die Menschen Hoffnung. Sie brauchen keine Dystopie, sondern Handlungsmöglichkeiten. Filme sollten die Vorstellungskraft aktivieren. Wir Menschen sind Expert*innen darin, Geschichten zu erzählen, es ist Teil unserer Menschwerdung. Von daher sind wir alle auf eine Art Expert*innen, zumindest in der Rezeption von Geschichten. Wenn das Publikum etwas verweigert, dann ist es interessant zu wissen, warum. Und es ist meist nicht der Grund, dass es – wie in Johannas Beispiel – zwei ältere lesbische Frauen waren oder weil eine behinderte Person im Film vorkommt. Das ist alles zu nichtig. Man muss einen Blick auf die Erzählung werfen, wie hast du diese Figuren erzählt, lass uns gucken und lernen, statt das Publikum klein halten.
Welche Qualitätskriterien sind in Eurem Fachbereich essentiell und plant Ihr, ein spezielles Berufsbild, ähnlich dem Green Consultant oder Intimacy Coordinator, einzuführen?
Johanna: Ein Qualitätskriterium ist die Expertise, die über die eigene Betroffenheit hinausgeht. Das ist sehr wichtig, um aus Argumentationen der gefühlten Wahrheiten hinauszukommen. Gerade im Film haben wir es ja durchaus mit hierarchischen Systemen zu tun. Wenn hier eine machtvolle Person einem die eigene Erfahrung absprechen möchte, indem zwei andere Erfahrungen dagegen gestellt werden, ist das ein Problem. Hier ist also Expertise über Dynamiken von struktureller Diskriminierung wichtig, man benötigt grundlegendes Handwerkszeug, um von sich selbst weg und trotzdem aus sich heraus mit situiertem Wissen aus der eigenen Lebenswelt zu agieren.
Letícia: Es gibt noch zwei weitere Qualitätsmerkmale, die wichtig sind: Zuerst ein Hinterfragen der Autor*innenschaftsposition. Was ist mein situiertes Wissen? Wie möchte ich es ergänzen, wenn ich mich außerhalb dessen in meiner Erzählung bewege? Warum bin ich die richtige Person, um diese Geschichte zu erzählen? Welche Perspektiven hole ich in mein Projekt? Und dann natürlich die Frage, an wen sich das Projekt richtet. Denn kein Film richtet sich gleichermaßen an alle. Vor allem am Anfang des Projekts muss man weg von diesem Marketingansatz. Wie stelle ich Diversität in meinem Stoff her und was passiert, wenn Betroffene und Nicht-Betroffene sich das anschauen? Man kann diesen Vorgang als einen möglichen Leitfaden nutzen, um sich zu fragen, auf welche emotionale Reise ich das Publikum schicken möchte? Wir sehen immer noch sehr viele Filme, die unbewusst die Nicht-Betroffenheit ins Auge fassen. Wenn beispielsweise ein Dokumentarfilm versucht, weißen Menschen Rassismus und dessen Auslöser näher zu bringen, dabei jedoch die ganzen Rassismen reproduziert, ist es für Betroffene oftmals unerträglich. Dann ist es fraglich, ob das Projekt auch das Ziel erreicht hat, das es sich vorgenommen hat.
Welche spezifischen Forderungen stellt Ihr an die Filmindustrie, Hochschulen und Förderanstalten? Welche Standards sollten etabliert werden?
Johanna: Ein wirklich wesentlicher Punkt, den wir beobachtet haben, ist: Wenn Gewalt und Diskriminierung unreflektiert und unbewusst in Drehbüchern reproduziert werden, dann sind die Sets genauso unsicher. Wenn in einem Drehbuch Sexismus unkommentiert und unkontextualisiert vorkommt, wird vermutlich auch am Set keine Frau vor Sexismus geschützt. Mit der Etablierung von Codes of Conducts und auch dem Respect Code Film gibt es viele gute Ansätze. Wir sind mit einem größeren Team dabei, eine Ausbildung zu entwickeln – den DAW-Coach – also Diversity Awareness und Wellbeing. Natürlich stellt sich immer die Frage der Finanzierung, aber es gibt den Bedarf, und da ist es wichtig, einen Standard zu etablieren. Das ist durchaus auch ein Appell an die Branche: Wenn die Gesetzgebung gerade vor Nachhaltigkeit und Diversität und Chancengleichheit streikt, ist es umso wichtiger, einen Akzent zu setzen und jetzt erst recht entsprechende Aufträge zu verteilen.
Letícia: Es geht ja nicht darum, dass eine Minderheit Teil der Branche sein darf, sondern dass das es gut für alle ist. Mehrere Perspektiven zu haben bedeutet auch, mehr Perspektiven in der Gesellschaft zu haben. Manche Menschen glauben, dass irgendwelche „Woke-Bewegungen“ Dinge verbieten wollen. Aber eigentlich ist es ja so, dass aus der rechtspopulistischen Ecke die Verbote kommen. In keinem Bundesland wurden Menschen gezwungen zu gendern. Jetzt muss die Branche widerständig sein. Sonst haben wir bald tatsächlich eine Regierung, die nicht demokratisch agiert und mit Verboten die künstlerische Freiheit beschneidet. Mehr Raum für die eigene Kreativität zu haben ist für alle gut, ganz egal mit welchem Körper.
Die Politik hat den vielen Aktivisten und Diversität einen Bärendienst erwiesen.
Wie kann es jetzt weitergehen?
Letícia: Die Filmbranche muss es jetzt besser machen als die Politik. Also, weiter Workshops buchen, sich weiter professionalisieren, weiter Vertrauenspersonen am Set einsetzen. Stoffe müssen ganz grundsätzlich geprüft werden, nicht im Sinne eines Verbotes, sondern im Sinne der Eröffnung von Perspektiven, von einer Pluralität von Stimmen in der Erzählung von Geschichten.
Johanna: Wir verweisen immer wieder auch in unserer Arbeit auf die ganzen Verbände hin, die es für jede Marginalisierungs-Erfahrung teilweise doppelt und dreifach gibt. Das sind wertvolle Netzwerke, um sich auszutauschen und weitere Perspektiven zu erhalten.
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