Die sechsteilige deutsche Constantin Produktion (Casting: Sabine Schwedhelm, Kinder: Franziska Schlattner) „Liebes Kind“ unter der Regie von Isabel Kleefeld, war ein überwältigender Erfolg. Nach nur zehn Tagen hatte die Serie 25 Millionen Abrufe und führte die weltweite Rangliste nicht-englisch-sprachiger Serien beim Streamingdienst Netflix an. Zudem schaffte es die Serie in mehr als 90 Ländern in die Top-Ten-Liste des Streamingdienstes.
Die Geschichte: Lena (gespielt von Kim Riedle) lebt mit den beiden Kindern Hannah (gespielt von Naila Schuberth) und Jonathan (gespielt von Sammy Schrein) völlig isoliert in einem hochgesicherten Haus. Ihr Alltag ist von strikten Regeln und Gehorsam gegenüber ihrem „unsichtbaren“ Vater geprägt. Als Lena nach einem Autounfall schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird, beginnt „Liebes Kind“ da, wo andere Thriller enden: mit einer Erlösung. Doch das wahre Ausmaß dieses Albtraums wird erst mit dem Eintreffen von Lenas Eltern deutlich, die seit fast 13 Jahren nach ihrer Tochter suchen.
Obwohl die Serie intensive und beängstigende Szenen enthält, war es für die jungen Schauspieltalente Naila Schuberth und Sammy Schrein, entscheidend, dass sie geschützt und umsorgt wurden. Die sorgfältige Arbeit mit den Kindern und die Unterstützung durch Kindercoach Ina Höffgen waren wesentliche Bestandteile des Drehs. Julia Keller sprach mit der Regisseurin und Headwriterin Isabel Kleefeld und mit Ina Höffgen über die Herausforderungen, einen Thriller mit Kindern zu drehen.
Isabel, Du hast das Buch zusammen mit Julian Pörksen geschrieben, inwieweit habt Ihr im Schreibprozess schon darüber nachgedacht, wie die Geschichte mit Kindern realisiert werden kann?
Isabel: Im Schreibprozess selbst haben wir uns zunächst an den Bedürfnissen der Geschichte orientiert und ganz bewusst die Frage ausgeklammert, wie wir das Ganze mit den Kindern werden realisieren können. Weil die beiden Kindercharaktere, Hannah und Jonathan, derart im Zentrum der Geschichte stehen, wäre es für den Schreibprozess auch nicht gut gewesen, wenn wir uns zu Beginn schon limitiert hätten. Aber natürlich war uns bewusst, dass es eine Herausforderung ist, Kinder in zwei tragenden Rollen zu haben, in einer sechsteiligen Mini-Serie, die viele Drehtage haben wird. Deshalb haben wir sehr früh Partner*innen gesucht, mit denen wir uns gemeinsam dem Thema Drehbedingungen und Genehmigungen für die Kinder stellen konnten. Das war der Moment, also noch vor dem Castingprozess, als ich Ina Höffgen, eine auf Kinder spezialisierte Schauspielcoachin, kennengelernt habe.
Das Casting. Wie seid Ihr da vorgegangen? Habt Ihr Euch bestimmte Spiele ausgedacht, habt Ihr Szenen mit den Kindern inszeniert, habt Ihr sie zusammen als Paar gecastet, also als Schwester und Bruder?
Isabel: Zunächst nicht. Das Kindercasting hat Franziska Schlattner gemacht, eine großartige Kindercasterin aus München. Wir haben zuerst das Feld sondiert: Welche Mädchen, welche Jungen gibt es, in welchem Alter, in welchen Städten, die schon ein wenig Schauspielerfahrung haben, ein wenig Set-Erfahrung. Wir haben kein Street-, Schulhof- oder Theatergruppen-Casting gemacht, sondern sind über Kinderagenturen in ganz Deutschland gegangen. Uns war klar, dass die Anforderung an die beiden Kinder, an die beiden Rollen, wirklich groß ist, und es hilfreich sein wird, wenn auch die Kinder und deren Eltern das aufgrund eigener Erfahrungen ungefähr einschätzen können. Insgeheim hatte ich bereits gehofft, dass wir Kinder aus der Umgebung finden, also möglichst Heimschläfer, damit die Kinder weiterhin ihr gewohntes soziales Umfeld haben, ihre Freund *innen sehen können. Damit sie zwischendurch zum Fußball, zum Hip-Hop oder wo auch immer hinkönnen und nicht auf längere Zeit in einer fremden Stadt sind und zusätzlich noch viel Zeit mit Hin- und Herreisen verbringen. Weil ja eh schon so viel Neues auf sie zukommen würde.
Für ein erstes E-Casting haben wir dann eine kindgerechte Rollenbeschreibung für die Kinder sowie einen Side Letter für die Eltern und zwei Szenen aus der Kinderdrehbuch Version verschickt. Der Side Letter für die Eltern enthielt bereits ein erstes Konzept für den Umgang mit Kindern und Story, sowie eine Anamnese der Figuren. Auf den beiden Szenen und einer zusätzlichen Impro-Situation haben wir dann auch das spätere Live Casting in München, Berlin und in Köln aufgebaut. In der finalen Casting-Runde waren dann Ina, Inga Brock, die medienpädagogische Fachkraft, Sabine Schwedhelm, die Casterin für das Erwachsenen-Ensemble, Franziska Schlattner und ich dabei. Wir waren also zu fünft und haben miteinander besprochen, mit welchen Vorschlägen wir an die Produktion und Netflix gehen.
Was war das Besondere an Naila? Wie konntest Du abschätzen, dass Naila so einen langen Drehzeitraum bewältigt und dabei auch noch Spaß hat?
Isabel: Also, die erste Frage ist die nach dem schauspielerischen Talent und nach der Fähigkeit, sich in eine Figur einzufühlen, auch in die besonderen Begabungen und Eigenschaften dieser Figur. Diese Fähigkeit hat Naila über alle Maßen bereits bei den ersten Spielszenen gezeigt. Die zweite Frage, inwieweit ein Kind eine lange Drehzeit durchsteht: Man kann beobachten, man kann mit dem Kind sprechen, man kann mit den Eltern sprechen. Und das mehrfach wiederholen, damit es Zeit zur Reflexion gibt und man sich nicht nur an einem guten oder an einem schlechten Tag erwischt. Aber wirklich prognostizieren kann man es nicht.
Hattet Ihr eine Backup-Plan? Hattet Ihr auch noch ein anderes Kind an die Dreharbeiten herangeführt?
Isabel & Ina: Nein.
Ina: Ich glaube, das wäre auch allein von der Thematik her schon nicht gegangen. Wir hatten mit den Kindern im Vorfeld 15 Probetage und haben sie so sensibel und behutsam auf diese Thematik vorbereitet. Zudem war es relativ schnell klar, dass Naila und Sammy ihre Rollen unglaublich toll und mit einer großen Freude spielen werden und man sehr gut mit ihnen „arbeiten“ kann. Sie sind wirklich zu einem unglaublichen Team zusammengewachsen.
Isabel: Diese Vorbereitungszeit hat mehrere Aufgaben abgedeckt. Zum einen natürlich, Naila und Sammy so gut es eben geht auf den Dreh vorzubereiten. So wurde jede Szene, an der sie beteiligt waren, vorab mit den anderen Schauspieler *innen live geprobt. Für uns wiederum war wichtig, die Art und Weise zu überprüfen, wie wir gut und konsistent die Kinderdrehbuch Version an die Kinder kommunizieren und dabei bestimmte Themen außen vorlassen. Das galt nicht nur für Julian Pörksen, meinen Regie und Autorenkollegen, und mich, sondern auch für den Cast und das Team wie Kamera, Garderobe, Maske, Requisite, die alle bereits in der Vorbereitung mit den Kindern zu tun hatten.
Und eine weitere Aufgabe in der Vorbereitung war zu checken, ob das ausgearbeitete Konzept für die Kinder auch wirklich funktioniert. Dazu gehörte unter anderem bei der Maskenprobe zuzuschauen, wenn zum Beispiel Kim Riedle Wunden geschminkt werden, den Aufbau unseres Sets zu verfolgen und zu sehen, wie das Haus entsteht, sich bei den szenischen Proben mehr und mehr in die Situation mit den anderen Schauspieler *innen zu begeben wäre da irgendwo das Gefühl aufgekommen, dass die Kinder etwas beeinträchtigt, ängstigt, sie es nicht wollen oder einfach nicht schaffen, diese Rollen zu tragen, dann wäre bei uns eine Alarmglocke angegangen.
Ich halte diese intensive Vorbereitungszeit, die ja auch kosten- und zeitintensiv ist, in diesem Fall für absolut notwendig. Diese Zeit mit Ina und Inga, mit den anderen Schauspieler*innen, mit den Teammitgliedern und mit uns, die hat sich wirklich ausgezahlt für die Kinder und deren Wohl und für das gesamte Projekt. Und wir alle haben dadurch vor dem Dreh gemeinsam an Sicherheit gewonnen.
Ich finde sehr interessant, dass Ihr die Kinder mit zu Maskenproben genommen habt, denn wenn man sieht, wie etwas entsteht, wird das Geheimnis aufgedeckt und der Grusel wird entlarvt. Gab es bei den Kindern oder den Eltern trotzdem noch Ängste? Wie seid Ihr damit umgegangen?
Ina: Ja, der Grusel wird so definitiv entlarvt und die Kinder fanden es auch sehr interessant zu sehen, wie so etwas hergestellt wird. Wir waren immer sehr feinfühlig, was mögliche Ängste angeht, und haben auch im Vorfeld schon gemeinsam überlegt, was ihnen vielleicht Sorgen oder Angst bereiten könnte und dies auch mit den Eltern besprochen. Es war von Anfang an so eine vertrauensvolle und wertschätzende Zusammenarbeit mit Isabel, Julian und der Produktion. Sie haben Inga und mir sehr vertraut, dass wir das mit den Kindern gut organisieren, vorbereiten und besprechen werden.
Und es ist sehr bedeutsam, diese so vertrauensvolle Arbeit auch auf die Eltern zu transportieren und sie mit einzubeziehen. Bei so einer Thematik und so einem langen Drehzeitraum ist es wichtig, sehr transparent zu arbeiten: Was haben wir eigentlich vor? Wie wollen wir arbeiten? Wie die Thematik an die Kinder herantragen? Und dann hat Isabel auch die Kinderdrehbücher geschrieben und bereits vor dem Casting schon Erklärungen, Erläuterungen und eine Anamnese für die Eltern. So wussten die Eltern schon vor dem Casting viel darüber, was wir in welchem Rahmen vorhaben bzw. wie die Arbeit aussehen könnte.
Ich möchte zum weiteren Verständnis an dieser Stelle gern noch ein paar wichtige Informationen zum Dreh mit Kindern an sich einschieben: Kinder dürfen in Deutschland 30 Tage im Jahr drehen und nur in Ausnahmefällen und mit einer Sondergenehmigung diese Anzahl von Drehtagen überschreiten. An einem Drehtag dürfen Kinder in der Regel maximal fünf Stunden anwesend sein und davon maximal drei Stunden drehen. Für das notwendige Bewilligungsverfahren bei der zuständigen Bezirksregierung muss in NRW ein ausgearbeiteter Mitwirkungsplan eingereicht werden. Inga Brock ist eine sehr erfahrene medienpädagogische Fachkraft für Kinderarbeitsschutz und wurde nicht nur aus diesem Grund bereits weit im Vorfeld von der Produktion eingebunden.
Nach intensivem Kennenlernen der Kinder, unter anderem auch durch Hausbesuche, hat Inga im Anschluss Gespräche mit dem Produzenten, der Herstellungsleiterin und der Bezirksregierung Köln geführt. Daraufhin wurden zur Sicherstellung des Kinderschutzes diverse Auflagen im Mitwirkungsplan für das Bewilligungsverfahren verankert. In enger Zusammenarbeit mit Regie und Produktion hat Inga schließlich dafür Sorge getragen, dass die Proben und Drehbedingungen für die Kinder in einer Form gestaltet werden konnten, in der das Kindeswohl immer oberste Priorität hat. Inga und ich konnten die Kinder die ganze Zeit über begleiten.
Besonders herauszustellen ist, dass das gesamte Team und die Schauspieler*innen den Kinderschutz mit unterstützt und getragen haben. Das Konzept zur Sicherstellung des Kindeswohls wurde allen Beteiligten auch als schriftlicher Sideletter ausgehändigt. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Regie und Produktion, so wie es bei „Liebes Kind“ war, ist wirklich die beste Voraussetzung für das Drehen mit Kindern.
© Wolfgang Ennenbach/Netflix | © Wolfgang Ennenbach/Netflix |
Ihr habt jetzt schon ein paarmal das Kinderdrehbuch erwähnt.
Könntet Ihr kurz erklären, was es damit genau auf sich hat?
Isabel: Beim Überarbeiten der Drehbücher hatten wir uns bereits Fachexpertise geholt: Zunächst bin ich mit einem Kinderpsychiater die Erwachsenendrehbücher durchgegangen. Sind die Krankheitsbilder richtig dargestellt? Ist es glaubwürdig, wie die Kinder agieren? Auch in unseren Abwandlungen zum Roman, in dem ja auch nicht alles eins zu eins stimmen muss. Bei diesen Beratungsgesprächen entstand dann die Idee der Kinderdrehbücher. Denn es ging ja nicht nur darum, wie wir die Geschichte den Kindern vermitteln, sondern auch, dass diese Vermittlung einheitlich ist. Dass wir alle, Cast und Crew, gegenüber den Kindern eine konsistente Geschichte erzählen, die zudem kindgerecht und logisch ist. Und so ist aus den sechs Drehbüchern ein zusammenhängendes Kinderdrehbuch entstanden, deren Reise, deren Geschichte. Ein Kinderdrehbuch mit allen Szenen, in die die Kinder involviert sind. In und zwischen den Szenen gab es eingefügte Fließtexterklärungen, was in der Zwischenzeit, die Kinderfiguren betreffend, passiert ist. Damit es auch im Kinderdrehbuch einen logischen Gesamtablauf gibt. Da stand dann auch, was wer denkt oder wie empfindet oder warum etwas tut oder nicht tut, aber im kindgerechten Kontext. Dieses Kinderdrehbuch habe ich dann erneut mit dem Kinderpsychiater durchgesprochen und vor allem auch mit Ina und Inga.
Ina: Es war auch klar vereinbart und auch Auflage, dass der Gesamt-Inhalt den Kindern unbedingt verborgen bleiben muss. Es war aber gleichzeitig so, dass die Kinder das auch wussten. Sie wussten, dass Hannah und Jonathan ihre Geschichte haben, aber dass es eben auch die Erwachsenengeschichte gibt und dort auch schlimmere Dinge passieren. Es gibt ja auch in der realen Welt Dinge, die nur für Erwachsene bestimmt sind oder nur für Kinder. Uns war wichtig, dass die Kinder wussten, dass wir sie nicht anlügen und dass diese Serie eine Serie für Erwachsene sein wird. Aber innerhalb dieser Serie gibt es eben auch eine große Geschichte über zwei Kinder und diese steht in ihrem eigenen Kinderdrehbuch. Deshalb hat Isabel diese tollen Fließtexte
geschrieben, damit die beiden trotzdem ihre Handlungsstränge verstehen konnten und immer wussten: warum sind wir jetzt hier, was passiert da. Aber eben in einer ganz kindgerechten Weise und mit kindlichen Bildern, damit sie auch verständlich für sie sind.
Könntet Ihr ein Beispiel aus dem Kinderdrehbuch nennen?
Isabel: Gerne. Beispielhaft hier eine Szene aus Episode 5, die im finalen Schnitt gekürzt wurde. Ich lese die gesamte, ungekürzte Szene aus dem Kinderdrehbuch vor, mit allen Fließtexten, damit nachvollziehbar ist, in welchem Kontext die Kinder das gedreht haben.
Mama sitzt am Esstisch. Ihr ist zu kalt in dem zu dünnen, geblümten Nachthemd. Aber ihre anderen Sachen sind blöderweise im Schrank und davon hat Papa aus Versehen den Schlüssel mitgenommen. Vor Mama liegt ein beim Buchstaben „B“ aufgeschlagenes Englisch / Deutsch Wörterbuch.
JONATHAN: Frierst du Mama?
MAMA: Ja, ich friere sehr.
JONATHAN: Papa gibt Dir Deine Anziehsachen heut Abend bestimmt wieder.
Mama gegenüber sitzen Hannah und Jonathan. Beide tragen Hüttenschuhe und Schlafanzüge und darüber ihre dicken Pullover. Sie haben Schulhefte vor sich liegen auf denen in Schönschrift „Englisch“ steht. Hannah fordert die nächste Vokabel.
HANNAH: Nächste.
Mama liest vor.
MAMA: Budgerigar.
Hannah meldet sich, Mama nickt. Hannah aus dem Gedächtnis:
HANNAH: Wellensittich, ist eine Vogelart, die zur Familie der eigentlichen Papageien gehört. Sie werden seit 1840 in Europa als Ziervögel gehalten, da sie auch in der Käfighaltung überlebensfähig sind. Obwohl sie ohne zusätzliche Wassergabe überleben können, bevorzugen sie…
Heute ist so ein Tag, an dem Mama sehr traurig ist. Vielleicht auch, weil ihr kalt ist und sie gerade nicht an ihre warmen Sachen kommt. Die Kinderpullis sind ihr viel zu klein, die helfen ihr auch nicht. Nun beginnt Mama zu weinen, sie zittert dabei. Jonathan springt auf und umarmt Mama.
JONATHAN: Hannah, du musst Mama von der anderen Seite wärmen.
Hannah steht auf und überlegt und sagt:
HANNAH: Mama komm, wir machen heute ausnahmsweise Unterricht auf dem Sofa.
Auf dem Sofa ist es nämlich schon etwas gemütlicher und vielleicht auch ein bisschen wärmer. Mama lässt sich weinend von Jonathan zum Sofa führen und setzt sich. Jonathan setzt sich neben sie. Hannah steht vor ihr, klemmt ihr die Plüsch-Katze Fräulein Tinky unter das Kinn, dann ist der Hals zumindest warm. Doch Mama hört nicht auf zu weinen. Sie wiegt sich vor und zurück. Vielleicht auch, weil Bewegung wärmer macht.
Hannah erinnert sich an das, was sie über traurige Menschen im Lexikon gelesen hat und sagt aus dem Gedächtnis:
HANNAH: Eine Depression ist eine psychische Störung. Häufig gehen Freude, Einfühlungsvermögen und
das allgemeine Interesse am Leben verloren. Jonathan versteht nicht und fragt besorgt nach.
JONATHAN: Heißt dass, wir sind ihr egal?
HANNAH: Trottel, das heißt, dass ihr alles egal ist.
Jonathan umarmt Mama ganz fest und verbirgt seinen Kopf unter Mamas Arm. Mama legt Jonathan die Hand auf den Kopf, Jonathan umarmt Mama ganz doll und von Herzen und dann fällt ihm plötzlich etwas ein.
JONATHAN: Ich weiß was!
Jonathan rennt nach neben an. Hannah fragt währenddessen:
HANNAH: Wann machen wir wieder einen Ausflug Mama?
Mama wiegt sich weinend hin und her.
MAMA: Bald.
HANNAH: Ich will wieder ans Meer zum Leuchtturm.
Jonathan holt im Kinderzimmer unter dem Etagenbett die große Schneekugel hervor, steckt sie unter den Pulli und läuft wieder hinaus. Hannah hat ihren Pullover ausgezogen und legt ihn Mama über den Schoß. Jonathan setzt sich neben Mama auf die Coach, lüpft seinen Pulli und hält ihr die Schneekugel hin.
JONATHAN: Für dich Mama. Ein Geschenk. Damit du nicht weinst.
Mama schaut die gläserne Kugel an. Jonathan erklärt:
JONATHAN: Die hab ich vom Weihnachtsmann bekommen. Sie ist aus echtem Glas und sehr schwer. Ich hab sie versteckt, weil sie ein Schatz ist.
MAMA: Du bist ein Schatz.
Mama wiegt die schwere Schneekugel langsam in der Hand.
HANNAH: Aber ich bin das Lieblingskind. Es muss immer ein Lieblingskind geben, auf das man sich verlassen kann.
Das ist der Tick von Hannah, das hat sie mal in einem Buch gelesen, aber das ist natürlich Quatsch. Aber alle geben ihr recht, weil Hannah das nun mal eben unbedingt so möchte.
MAMA: Ja, Hannah.
JONATHAN: Du musst die Kugel schütteln, dann hören die Tränen auf.
Mama schüttelt die Schneekugel ganz doll.
Isabel: Zu dem Kinderdrehbuch muss ich noch kurz ergänzen: immer, wenn die Kinder anwesend waren, haben auch Team und Cast nur das Kinderdrehbuch beim Arbeiten benutzt, damit nichts irgendwo rumliegt. Die Kinder wussten, dass wir auch ein Erwachsenendrehbuch haben, für dessen Inhalt sie noch zu jung sind. Und was zudem nicht gut für ihr Rollenw issen und für ihr Spiel gewesen wäre.
Und wie seid Ihr mit der Dispo umgegangen?
Ina: Es lag nie irgendwo eine Dispo herum. Jeder hatte seine Dispo bei sich. Dieser Umgang mit Dispo und Drehbuch stand auch in dem Side Letter zum Kindeswohl. In dem Side Letter stand zum Beispiel auch, dass wenn die Kinder drehen, nur die Kinderdrehbücher verwendet werden, da der Gesamtinhalt nicht an die Kinder herangetragen wird. Und dass, wenn Team, Cast oder die Kinder Fragen bezüglich des Kinder-drehbuchs haben, sie sich bitte an Isabel, Julian, Inga oder an mich wenden.
Habt Ihr auch ein Briefing für ein allgemeines Wording gehabt?
Wie wird was kommuniziert oder welche Wörter dürfen eben nicht kommuniziert werden?
Isabel: Ja, alle wussten, was muss ausgelassen, was kann kommuniziert werden, wer kommuniziert. Natürlich konnten alle mit den Kindern quatschen und Spaß haben. Aber alle sollten sich ansonsten in der Kommunikation zur Story bitte auf das Kinderdrehbuch beziehen, und es vorher gelesen haben.
Ina: Es ist immer ein Unterschied, ob Kinder etwas nur in den Nachrichten sehen oder aus Geschichten erfahren, oder aber, ob sie etwas selber durchleben, indem sie es spielen. Deshalb darf man Kinder auch nicht im Spiel ängstigen, da muss man andere Wege finden, um eine authentische Darstellung zu erreichen. In diesem Fall war es ja so, dass sie eben keine Angst in diesem Haus haben sollten und keine Angst vor Papa. Denn Jonathan und Hannah haben schließlich auch keine Angst vor ihrem Vater. Sie kennen es ja gar nicht anders. Für sie ist das ja eine ganz normale Welt. Wenn man Naila und Sammy jetzt gesagt hätte, dass der Vater sie gefangen hält, und dass er ein Psychopath ist, dann hätte sie das zum einen eventuell geängstigt, aber es wäre auch vom Spiel einfach nicht richtig gewesen. Sie hätten vielleicht auch angefangen, alles zu beobachten, was er macht.
Wie war die Vaterfigur für die Kinder? War sie so dominant oder war das Anspiel komplett anders?
Isabel: Wir haben gemeinsam mit Christian Beermann, der den Vater spielt und wirklich gut mit Kindern kann, besprochen, was der sinnigste Weg im Umgang mit den Kindern in den jeweiligen Szenen ist. Und so gab es Verabredungen zwischen ihm und den Kindern: Wann geht er in die Figur rein und gibt ihnen vorher ein Zeichen, jetzt bin ich der dominante Papa mit dem Fimmel, und jetzt bin ich wieder Christian. Und beide Kinder hatten im Übrigen schon davon gehört, dass es Erwachsene gibt, die es nicht mögen, wenn Kinder zanken oder die irgendwann laut werden und sagen: „Jetzt ist aber Schluss mit: Ich muss noch aufs Klo, ich will noch was trinken, ist denn die Haustüre zu? Ich muss noch gucken, wo die Katze ist“, wenn es eigentlich darum geht, ins Bett zu gehen.
© Wolfgang Ennenbach/Netflix | © Wolfgang Ennenbach/Netflix |
Die Dynamik kennt man unter Geschwistern. Das jüngere Geschwister macht Quatsch und das ältere Geschwister sagt: „Jetzt mach mal das, was angesagt ist.“ Dieser Rollentausch allerdings, in dem Kinder für die Mutter Verantwortung übernehmen, ist Kindern wahrscheinlich eher fremd.
Isabel: Hannah, die im Etagenbett unten liegt, sagt zu Jasmin leise etwas, was Jonathan nicht hört: „Mama du musst jetzt aufstehen.“ Hannah will Jasmin an den nächsten Schritt des Rituals erinnern und sagt deshalb leise vor. Hannah ist es gewohnt, mehr zu wissen als die anderen, schließlich kann sie den gesamten Brockhaus auswendig. Zudem haben wir mit beiden Kindern darüber gesprochen, dass es ganz unterschiedliche Familienkonstellationen gibt, und dass es auch ganz unterschiedliche Rituale und vor allem Regeln gibt, die von unterschiedlichen Familienmitgliedern festgelegt werden. Dass sie selbst sicher auch Freund*innen haben, die viel mehr dürfen oder viel weniger. Die einen dürfen nicht allein mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Dann gibt es andere, die schon mit acht einen eigenen Computer im Zimmer haben und bis in die Nacht gamen dürfen. Und in diesem Fall ist es halt so, dass ein Papa ganz bestimmte Regeln aufgestellt hat, weil er meint, dann würde es allen gut gehen.
Ina: Es gibt ja ganz viele verschiedene Familienbilder. Und in früheren Zeiten war es ja eher üblich, dass der Vater der Strengere war. Das Haus ist ja auch so eingerichtet, dass die Geschichte auch einfach vor fünfzig Jahren spielen könnte. Auch das haben wir den Kindern erklärt, dass es vor allem früher viel autoritärere Strukturen in Familien gab, als das heute meistens der Fall ist.
Also für Jonathan war der Vater ein liebender Vater, der einfach auf sie aufgepasst hat?
Ina: Ja und der einfach immer alles sehr sicher haben will und für den Regeln sehr wichtig sind. Deshalb waren auch die Kameras da, damit er immer sehen konnte, dass ihnen auch bloß nichts passiert.
Isabel: Sammy wusste für seine Figur Jonathan, dass Papa übervorsichtig ist und eine übertriebene Angst davor hat, dass sich jemand verletzt. Zum Beispiel mit dem Stuhl kippelt und umfällt. Deswegen sind die Stühle am Boden festgemacht. Auch wenn diese Ängste von Papa völlig übertrieben sind und er da einen echten Fimmel hat, so haben wir das den Kindern erklärt. Wir haben den Kindern nicht gesagt, dass die Stühle am Boden festgemacht sind, weil sie als Waffe gegen den Vater genutzt werden könnten. Ich muss gerade noch mal an die Szene denken, in der die Frau die beiden Kinder zu Bett bringt. Die beiden Kinder streiten sich und deshalb darf die Frau ihnen keine Geschichte mehr erzählen. Daraufhin sagt Hannah der Frau: „Du musst jetzt aufstehen.“ Der Vater steht in der Tür, man sieht ihn nur als Silhouette von hinten. In der Szene hat er eine sehr dominante und fiese Stimme: „Du musst jetzt aufstehen!“.
Es war alles abgeschwächt, aber die Kinder wussten doch ziemlich viel. Sind trotzdem noch Fragen aufgekommen? Zum Beispiel: Kann es sein, dass mein Papa jetzt auch anfängt zu versuchen, mein Leben so sicher zu machen?
Ina: Nein, tatsächlich sind solche Fragen nicht aufgekommen und wir waren sehr sensibel für Unsicherheiten. Genau solche Ängste wollten wir auch vermeiden. Ich war die ganze Zeit über immer sehr nah bei den Kindern und habe auch die Eltern gebeten, immer Bescheid zu geben, wenn die Kinder zu Hause noch Fragen stellen oder Unsicherheiten auftauchen sollten, denn nur so können wir dafür sorgen, dass für sie auch alles gut ist.
Isabel: Der enge Austausch mit den Eltern hat sehr gut funktioniert, ein Elternteil war immer dabei, in der Vorbereitung, bei den Proben und beim Dreh. Es war eine große Hilfe, dass die Eltern mitbekommen haben, was ihr Kind erlebt. Auch um einschätzen zu können, worauf bezieht sich das Kind mit seinen Äußerungen oder Fragen. Deshalb galt bei diesem Dreh das Gegenteil von „Bloß keine Eltern am Set“.
Auch eine weitere Vertrauensperson am Set ist bestimmt wichtig.
Isabel: Ja, unbedingt.
Ina: Was ich eben schon erwähnt hatte, transparentes Arbeiten ist unglaublich wichtig. Ich hatte ja während der Vorbereitung bereits engen, kontinuierlichen Kontakt zu den Kindern und den Eltern. So konnte ich Isabel und Julian auch immer über den aktuellen Stand informieren. Naila hatte ja sehr viel Text. Und ich habe ihr in der Vorbereitung für jede Woche einen Textlernplan geschrieben. Und dann haben wir uns entweder Live gesehen oder wir haben gezoomt und haben das dann alles nochmal ausführlich besprochen. Ich habe danach jeweils eine komplette Übersicht erstellt, was ich mit den Kindern besprochen habe, wo vielleicht noch Fragen oder Unsicherheiten im Spiel aufgekommen sind und mit welchen kindlichen Bildern ich gearbeitet habe. Diese Übersicht haben dann sowohl Isabel und Julian bekommen, als auch die Eltern. Damit sie immer genau wussten, was mit den Kindern kommuniziert wurde, was sie schon ganz großartig machen und wo wir vielleicht noch ein bisschen dran arbeiten müssen.
Naila ist zwei Jahre älter als Sammy. Was war da der Unterschied?
Du sagtest, Naila hatte einen Wochen-Lehrplan. Gab es auch ein tägliches Briefing?
Ina: Beide Kinder kannten all ihre Szenen bereits vor dem Dreh von vorne bis hinten, kreuz und quer. So konnten sie sich beim Dreh wirklich auf ihr Spiel konzentrieren und mussten nicht die Sorge haben: Wie geht denn der Text? Wo bin ich eigentlich gerade und warum? Auch deshalb ist es mir so wichtig, dass es so eine intensive Vorbereitung gibt. Natürlich arbeite ich mit ihnen in der Vorbereitung daran, dass sie trotzdem nicht „festgefahren“ sind. Aber es gibt Kindern große Sicherheit, wenn sie das Gefühl haben, ich kann meinen Text, ich weiß alles über meine Figur, wie sie denkt, fühlt, handelt, warum sie Dinge tut oder was sie tun würde und was nicht. So können sie sich beim Dreh komplett auf Szenen und ihre Spielpartner*innen einlassen und frei spielen.
Isabel: Wir hatten mit beiden Kindern innerhalb unseres Vorbereitungsplans genaue Verabredungen getroffen, wann wir mit wem für welche Motive und Szenen live proben. Wobei auch bei Probentagen drei Stunden Proben und maximal fünf Stunden Anwesenheit inklusive genau festgelegte Pausen und Mittagessen gelten. Das ging Anfang April 2022 los und Ende Mai kurz vor Drehbeginn hatten wir dann den letzten Live-Probentag. Wir haben die Probentage so verteilt, dass die Kinder sich über fast zwei Monate entwickeln und immer wieder Sachen auffrischen konnten, gemeinsam mit ihren zukünftigen Spielpartner*innen.
Ina: Neben diesen Live-Proben, die wir dann im Produktionsbüro alle zusammen hatten, war ich wie gesagt zusätzlich auch noch bei ihnen zu Hause und habe mit ihnen die nächsten Szenen erarbeitet. Ab dem Dreh gab es dann ab und an eine Stunde am Wochenende, in der wir die kommenden Wochen besprochen haben. Da habe ich nochmal gemeinsam mit den Kindern alles in Erinnerung gerufen, was für die Woche und die jeweiligen Szenen wichtig ist. Dies haben wir dann auch noch einmal an jedem Drehtag für die jeweiligen Szenen besprochen. Wir haben morgens nochmal kurz gesprochen oder mittags. Je nachdem, wann sie angekommen sind: Okay, was kommt heute, wo bin ich in der Geschichte. Was ist wichtig für die einzelnen Szenen, was ist davor passiert und was danach.
Da es ein langer Drehzeitraum war, hattet Ihr bestimmt eine sehr intensive Beziehung zu beiden Kindern. Wie ist das nach dem Dreh weitergegangen?
Ina: Ja, die hatte ich sehr und weil die Kinder so eine vertrauensvolle Basis zu uns allen aufgebaut haben und besonders natürlich zu Isabel, Julian, Inga und mir, ist es wichtig, dass wir uns danach trotzdem in gewissen Abständen auch wiedersehen und schauen: Hey, wie geht’s euch? Geht’s euch gut? Gerade in den Wochen und Monaten nach dem Dreh waren wir ganz viel im Austausch, auch mit den Eltern. Wie sind sie wieder angekommen? Haben sie sich wieder in alles eingefunden? Vermissen sie es doll oder geht es ...
Isabel: Wir telefonieren oder schicken Sprachis oder schreiben SMS und wir treffen uns ab und zu, unternehmen Sachen zusammen wie zum Beispiel ins Jump-House oder auf die Bowling-Bahn gehen. Kurz vor dem Lounge-Termin sind wir zusammen essen gegangen. Da war der Dreh genau ein Jahr her, beide ein Jahr älter und wir haben den Kindern einen etwas größeren Ausschnitt der Geschichte erzählt. Weil es wahrscheinlich war, dass sie von anderen, älteren auf die Serie angesprochen werden. Und um das dann einordnen zu können, auch wenn sie selbst die Serie noch nicht sehen dürfen. Wir hatten für die Kinder, nachdem wir mit dem Schnitt fertig waren, im April 2023 einen Zusammenschnitt gemacht von Szenen, die für die Kinder okay sind, damit sie überhaupt ein Gefühl für die fertige Serie bekommen. Und wir haben für sie Outtakes zusammengeschnitten von Sachen die halt nicht so funktioniert haben. Beide fanden die Outtakes viel interessanter, wenn einer vom Stuhl kippt, wenn einer sich verspricht, wenn einer anfängt zu lachen. Den Zusammenschnitt haben wir uns dann bei mir zu Hause gemeinsam angeschaut und gesagt: das ist euer eigener Film, der ist nur für euch. Denn so gar nichts zu sehen, das ist natürlich blöd, wenn man so lange an etwas gearbeitet hat.
Gab es dann auch noch ein Briefing, das die Kinder auf den Release vorbereitet hat?
Isabel: Genau so ein Briefing gab es innerhalb der Nachbereitung. Dabei ging es nicht um Presse-Statements oder so, die Kinder wurden natürlich aus der Pressearbeit rausgehalten. Es ging darum, wenn jemand kommt und einem vielleicht auch mal ’nen blöden Spruch reindrückt, wie reagiert man dann? Es ging aus der Sicht der Kinder ganz praktisch darum: Gib mir drei Sätze zur Auswahl, die ich sagen kann, wenn ich in dem Moment überfordert bin. Und es ging natürlich auch darum, miteinander zu überlegen, warum jemand anderes vielleicht mal etwas nicht so Nettes sagt, und wie man das für sich einordnen kann. Kinder kennen ja die Situation, dass jemand kommt, ’nen blöden Spruch hat oder schubst, und das eigentlich nur macht, weil derjenige Aufmerksamkeit oder auch Anerkennung oder vielleicht sogar Freundschaft möchte, das aber nicht äußern kann.
War das Briefing eine Idee von Euch oder kam das von der Produktion oder von Netflix?
Ina: Die Idee kam von uns. Inga und ich tauschen uns im Vorfeld immer schon sehr intensiv aus, was wir vielleicht alles gemeinsam beachten müssen, was den Kindern vielleicht Sorgen bereiten könnte und was wichtig für sie vor, während und nach dem Dreh sein könnte.
Was würdet Ihr sagen, ist die größte Herausforderung, mit Kindern zu drehen?
Und was ist die größte Verantwortung, die man als Creator hat?
Isabel: Kinder in einen Dreh reinzuholen und sie wieder so zu entlassen, dass die Arbeit eine tolle Herausforderung und eine wirkliche Bereicherung für sie ist.
Gibt es durch Eure Erfahrung mit „Liebes Kind“ Punkte, die Ihr jetzt anders gestalten würdet?
Isabel: Wir hatten Bedingungen, für die ich wirklich sehr dankbar bin. Die ich im Nachhinein für geradezu notwendig halte, was aber auch kalkuliert werden muss. Und auch das, diese Form von Weitsicht und Umsicht, war bei dieser Produktion gegeben. Es ist l etztendlich für alle eine Bereicherung, mit Kindern zu drehen, aber es bedeutet auch viel Rücksichtnahme. Das gilt vor allem auch für die erwachsenen Schauspieler*innen. Sie müssen sich den speziellen Abläufen unterordnen. Auch dem Fakt, dass die Kinder, sobald sie am Set eintreffen, der unausgesprochene Mittelpunkt sind. Wobei ich nicht verschweigen will, dass das auch mit der Arbeitszeitlimitierung zu tun hat. Aber allein bei jeder Kommunikation, mit Maskenbild, mit Garderobe, mit Regie, müssen die Schauspieler *innen im Hinterkopf haben, dass Kinder anwesend sind und man bestimmte Dinge nur so und so formulieren sollte. Das ist sicher nicht immer einfach. Es bedeutete für den Cast auch im Vorfeld einen zeitlichen Mehraufwand, da einige für die Probentage mit den Kindern länger in Köln bleiben mussten, weil wir am Tag jeweils nur drei Stunden mit den Kindern proben konnten. Diese Vorbereitungstage dienten auch nicht nur den Proben, sondern zusätzlich dem persönlichen Kennenlernen, damit die Kinder auch der Person hinter der anderen Rolle näherkommen konnten.
Ina: Bedeutsam für mich war es auch, die Kinder an den jeweiligen Drehtagen auf das vorzubereiten, was die anderen spielen werden oder könnten. Zum Beispiel, wenn Kim jetzt weint, außer sich ist oder einen Zusammenbruch spielen muss, dass ich die Kinder auf diese Situation vorbereite und mit ihnen darüber spreche. Das und das passiert heute, das und das könnten die anderen spielen. Im Gegenzug kann man dann aber auch den anderen Schauspieler*innen sagen: Ihr braucht euch beim Spiel keine Sorgen zu machen, ich bin da und die Kinder sind darauf vorbereitet und spielt bitte so, dass ihr keine Rücksicht nehmt. Sie dürfen sich beim Spielen selbst keine Gedanken machen müssen von wegen: oh nein, ich muss mich jetzt reduzieren, weil die Kinder ja jetzt am Set sind.
Nun haben Schauspieler*innen eine professionelle Ausbildung, wissen meistens, wo ihre Grenzen sind.
Kinder wollen oft gefallen und trauen sich nicht immer zu sagen, wenn für sie die Grenze erreicht ist.
Wie gehst Du als Regisseurin damit um? Wann weißt Du, jetzt ist die Grenze erreicht?
Isabel: Zum einen hat die Regie die Möglichkeit, Grenzen zu setzen und Kinder nicht über diese Grenzen gehen zu lassen. Und zum anderen muss man versuchen, die individuellen Grenzen der Kinder möglichst heraus finden. Auch ganz simple Grenzen. Das kann ich am Beispiel Casting verdeutlichen. Wir haben eine Casting-Szene in der zweiten Runde verhältnismäßig oft wiederholen lassen. Am Anfang gab es von meiner Seite noch Wünsche, was geändert oder verstärkt werden könnte, und irgendwann gab es keine Aufgaben oder Wünsche mehr, sondern nur noch Wiederholen. Prima nochmal. Prima nochmal. Zum einen findet man heraus, wie viel Spaß ein Kind am puren Wiederholen hat. Es gibt Kinder, die finden das super, die lieben Wiederholungen. Und es gibt Kinder, die langweilen sich spätestens nach vier, fünfmal od er werden einfach unsicher, weil sie nicht wissen, warum genau sie etwas wiederholen sollen. Ich finde alle Reaktionen völlig okay. Wenn man dann aber den Punkt erreicht hat, an dem ein Kind sagt: Ich weiß gar nicht, warum ich das noch einmal spielen soll. Oder einfach sagt: ich mag nicht nochmal. Dann ist der richtige Moment für ein Gespräch und folgende Frage: „Ich verstehe das total. Ging dir das denn schon ein bisschen früher so?“ Und wenn dann als Antwort kommt: „Bei den letzten drei Mal wusste ich gar nicht warum.“ Dann kann man miteinander eine Verabredung treffen und sagen: Immer, wenn du nicht weißt, warum du etwas machen sollst oder dich dabei unwohl fühlst, frag sofort nach. Und wenn du nur fühlst, ich mag einfach gerade nicht mehr, dann kann man das auch besprechen. Eventuell ist es ja gar nicht mehr nötig oder man braucht wirklich eine neue oder andere Aufgabe. Es kann ja auch sein, dass die Regie einfach keine gute Aufgabe gestellt hat und dann ist so ein Feedback auch super.
Manchmal spüren Kinder gar nicht, wenn sie über ihre Grenzen hinausgehen? Ist es wichtig, Kindern ein Bewusstsein zu geben, wo ihre Grenzen liegen, damit sie beim nächsten Mal Stopp sagen können?
Isabel: Zum einen war Ina immer vor Ort, mit ihrem Fokus ausschließlich auf den Kindern. Zum anderen spüren Kinder sehr schnell, wenn sie sich, aus welchem Grund auch immer, unwohl fühlen. Und da sollte es dann die genannte Verabredung geben, dass sie das benennen dürfen und sogar sollen und nicht in irgendeiner Form verbergen. Und wenn es mal so ist, dass ein Kind irgendwas nicht nochmal machen möchte, wir das aber brauchen, weil wir etwas nicht gut gemacht haben, Lampe ausgefallen, etwas Wichtiges vergessen, verschwenkt, Anstecker im Bild, zu spät eine gute Idee gehabt, whatever, dann werden wir das Kind bitten, das mit genau der Begründung nochmal zu wiederholen, das ist Teamarbeit.
Ina: Und wenn Isabel oder Julian sagen, okay wir machen das jetzt nochmal, dass ich ihnen das dann auch wirklich so erkläre, damit da keine Unsicherheit entstehen kann oder Zweifel am eigenen Spiel. Damit sie auch weiterhin frei und sicher spielen können.
Isabel: Diese Verabredung ist auch wichtig, weil Kinder, wie wir alle, unterschiedlich gute Tage haben. Es gibt Tage, an denen fällt alles ganz leicht, zum Beispiel auch verhältnismäßig komplexe Texte, und es gibt Tage, an denen man nicht so gut ist, vielleicht war da gerade ein Wachstumsschub oder irgendjemand war doof oder man hat sich den Magen oder die Laune verdorben oder einfach schlecht geschlafen. Und es ist toll, wenn Kinder das dann ohne große Begründung äußern können: Ich glaub, heute ist nicht m ein bester Tag. Damit kann man dann gut umgehen.
Ina: Deshalb ist auch Vertrauen so unglaublich wichtig und die Sicherheit, dass jemand da ist, der sie sieht, damit sie wissen: Hey, wir können alles sagen. Aber manche Kinder trauen sich vielleicht trotzdem nicht, Dinge zu sagen oder möchten dies nicht vor allen tun und dann ist es auch meine Aufgabe herauszufinden, okay, sie wollen jetzt glaube ich gerade einfach nicht so gerne weiterspielen, vielleicht ist eine Unsicherheit da oder sie brauchen vielleicht gerade einfach nur mal kurz eine Pause. Ist gerade ein Umbau möglich oder können wir die Zeit anders nutzen, während die Kinder dann einen Moment an die Luft können. Es reicht oft schon, dass man sie einmal kurz rausnimmt, damit sie dann wieder frisch reingehen können.
Die zwei Säulen sind also sehr gute Vorbereitung und Vertrauen, wodurch sich die Zusammenarbeit mit Kindern so gestalten lässt, dass alle wieder „safe“ aus dem Dreh rauskommen.
Ina: Ja auf jeden Fall und ich denke, die vertrauensvolle Basis zwischen Regie und Coach*in ist dabei auch von großer Bedeutung.
Isabel: Gerade wenn Kinder so eine große Rolle haben wie hier, sind Coaches enge Mitarbeiter*innen der Regie. Weil man nicht nur alles, was die Kinder angeht, miteinander bespricht. Sondern weil ein*e Coach*in auch allgemein viel mitbekommt vom gesamten Kontext, auch was die Arbeit mit den anderen Schauspieler*innen und Gewerken angeht. Es ist ein großes Glück, wenn man eine so vertrauensvolle, wertschätzende Zusammenarbeit hat. Das war für mich ein großer Zugewinn, neben meinem Kameramann Martin Langer war Ina extrem nah dran und eine große Unterstützung. Ein*e Coach*in kann in Bezug auf die Kinder wie ein*e Regiepartner*in sein, wenn ein so intensiver, produktiver Austausch möglich ist. Es ist natürlich Glückssache, wie gut sich das ergibt und matcht.
Ina: Für mich war es ein großes Geschenk, dass ihr mir und meiner Arbeit so vertraut habt und wir uns immer so austauschen konnten und ich das so mit den Kindern erarbeiten konnte und durfte. Der Austausch ist allein schon deshalb wichtig, weil ich mit den Kindern ja auch schon im Vorfeld ihre emotionalen Bögen mithilfe von kindgerechten Bildern erarbeite. Dies kann ich dann wiederum mit Isabel und Julian teilen. Eine einheitliche Ansprache hilft den Kindern ungemein, in die Szenen und Emotionen reinzukommen.
Gibt es eine bestimmte Methode, mit der Du arbeitest?
Ina: Ich finde, man muss schauen, was habe ich für ein Kind? Was habe ich für Szenen, mit welcher Emotionalität? Was für das eine Kind funktioniert, funktioniert für das andere schon mal gar nicht. Ich mach ja sehr oft Produktionen mit schwierigen Thematiken und da muss man auch schauen, wie alt sind die Kinder, mit was kann ich sie überhaupt konfrontieren und mit welchen kindgerechten Bildern kann ich Situationen herstellen, dass die Kinder so spielen können, wie die Regie das intendiert hat. Kann ich da vielleicht über eine Körperlichkeit arbeiten, was oft super funktioniert, gerade auch bei kleineren Kindern, um das herzustellen, was eben gebraucht wird. Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich die Kinder anschaut, die Szenen, das Projekt und was von ihnen verlangt wird. Und im Anschluss, wie wir das auch gemacht haben, einen Plan erarbeitet. So eine Vorbereitung ist das A und O und auch die Begleitung am Set. Für Kinder ist Routine unendlich wichtig. Ich werde auch ganz oft gefragt, können wir nur die Vorbereitung und ein paar Tage oder so machen? Wenn es mal gar nicht anders geht und eine Produktion sagt, wir haben das Budget einfach nicht, dann versucht man, das Bestmögliche zu erarbeiten, aber rein für das kindgerechte Drehen, für das kindgerechte Erarbeiten von Szenen, Figuren, gerade von größeren Rollen, ist es von großer Bedeutung, dass die Kinder eine Kontinuität haben, und dass man von Anfang an da bei ist und den Dreh begleiten kann. Für Kinder ist es einfach auch das Beste, weil sie eine Vertrauensperson haben (im besten Falle natürlich in Kombination mit einer Medienpädagogischen Fachkraft für Kinderarbeitsschutz), die nur für sie, ihr Spiel und ihre Fragen da ist und auch als Ansprechpartner*in für die Eltern.
Isabel: Ich glaube, es wäre letztendlich für alle von Vorteil, wenn das Auflage wäre und einfach kalkuliert werden müsste. Und nur, um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht jetzt in keinster Weise darum, Kinder von der realen Welt abzukoppeln und sie im Wölkchen-, Schäfchen-, Blumenwiesen-Paradies rund um die Uhr zu umhegen. Kinder bekommen genug vom Alltag mit, von Konflikten, von Krankheit. Und auch von unserer gesellschaftlichen und politischen Situation, allein was Krieg, was die Klimakatastrophe angeht. Vor diesen Informationen kann man Kinder ja auch nicht schützen, aber man sollte versuchen, diese möglichst kindgerecht zu vermitteln. Es ist eine Sache, wenn Kinder unvermeidbar mit Dingen konfrontiert werden, die in der Welt passieren. Und eine andere ist, wenn Kinder freiwillig und spielerisch in eine andere Figur schlüpfen, sich da reinbegeben und etwas nachempfinden, in dem Moment etwas sein sollen. Dann ist es unsere Aufgabe, sehr genau zu überlegen, was wir ihnen zumuten und wie wir sie schützen.
Das ist doch ein schönes Schlusswort. Ich danke Euch für Eure Zeit und den detaillierten Einblick.
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