Ich muss zugeben, dass ich mit meiner ganzen Naivität, mit der ich an meine erste Berlinale herangegangen bin, sie maßlos unterschätzt habe.
Als ich meine Presseakkreditierung für die Internationalen Filmfestspiele Berlin bekam, habe ich es mehr als einen Job oder ein intensives Praktikum ange- sehen, bei dem ich eben ein paar mehr Filme sehe als sonst.
Wie abgedreht und allumfassend die Berlinale ist, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst und lässt sich auch nur dann voll und ganz nachvollziehen, wenn man es miterlebt hat.
Während dieser zehn Tage atmet man Berlinale, man schläft, man lebt, man isst sogar Berlinale – die Mitarbeiter bei „Pret à Manger“ und „Five Guys“ am Pots- damer Platz wurden gute Freunde.
Man fällt morgens aus dem Bett und in einen der roten Samtsitze des Berlinale Palasts, streift den Tag über von Kinosaal zu Kinosaal, der Potsdamer Platz ist so voll mit Menschen unterschiedlichster Herkunft, wie man ihn noch nie gesehen hat. Abends wieder ins Bett, oder eben auf die Party (und davon gibt es so einige), auf der Lars Eidinger heute auflegt.
Dennoch kann ich stolz von mir behaupten, dass ich bei keiner einzigen Vor- stellung eingeschlafen bin.
Spätestens an Tag sechs, nachdem das Berlinale-Intro auf der Leinwand erscheint, mit der charakteristischen Tonfolge, die die Endorphine in die Höhe schießen lässt, wird die kurze, dunkle Pause bis zum Beginn des Films – dessen Titel man zu diesem Zeitpunkt gerne schon wieder vergessen hat – mit dem Husten und Schniefen fast aller Anwesenden gefüllt.
Wer sich am Ende der zehn Tage noch kein Berlinale-Virus eingefangen hat, sollte eine Woche Sonderurlaub beantragen, denn es wird einen früher oder später einholen.
Zu viel Input? Nicht doch!
Was sehr zur besonderen Stimmung beiträgt, ist der Eindruck, dass alle Beteiligten großen Spaß an dem haben, was sie gerade tun. Sämtliche Mitarbeiter*innen, viele davon noch vergleichsweise sehr jung, waren immer freundlich und hilfsbereit, und spätestens an Tag drei, wenn ich ein wenig zu spät zum neun Uhr morgens Film über den Potsdamer Platz gerannt kam, wurde ich angefeuert. Ebenso wurden Glückwünsche ausgesprochen, wenn ich einmal pünktlich war.
Das Einzige – von Schlaf- und Sonnenlichtmangel einmal abgesehen – was die durchgetakteten Tage oft vekompliziert hat, waren die Pressekonferenzen, die teilweise zu spät anfingen, oder sehr spät nach der dazugehörigen Pressevorführung angesetzt waren. Auch wurde wenig interveniert, wenn einzelne Journa-list*innen einen langen Fragenkatalog stellten, der sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Dennoch war es immer interessant mit anzusehen, wenn sich Regisseur*innen und Schauspielende zu ihrem jeweiligen Projekt äußern konnten, und der daraus resultierende Dialog konnte so manche Konfusion aus dem Weg räumen.
Ich wurde von vielen gefragt, ob ein Filmfestival mit einem Programm von diesen Ausmaßen und so unglaublich viel Input nicht viel zu viel ist. Die Antwort ist ganz klar: nein. Natürlich muss man sich nach jeder Vorstellung seine Notizen machen, damit nicht alles im Kopf zu einer wüsten Masse verschwimmt und man überhaupt noch weiß, welcher Film an welchem Tag gezeigt wurde, aber sobald das Licht gedämmt wird und es losgeht, ist es wie ein Neustart. Man kann sich auf jede Geschichte neu einlassen, denn kein Film ist wie der andere. Es bleibt überhaupt keine Zeit für Überforderung oder Reizüberflutung, sodass schon an Tag drei ein Zustand von fassungsloser Hysterie eintritt und man nur noch lachen kann, wenn der Wecker klingelt. Und die Tatsache, dass sich alle darauf einlassen, dass man den Eindruck hat, dass alle Beteiligten darin aufgehen, verbindet ungemein.
Der Tod als Highlight
Es ist durch die so unzähligen, verschiedenen Eindrücke sehr schwer, einzelne Highlights festzumachen, aber am meisten denke ich im Nachhinein über die zwei Filme nach: „Sterben“ von Matthias Glasner, der zu Recht den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewonnen hat, und „Another End“ von Piero Messina. Beide sind vom Genre, vom Produktionsland und von der Geschichte her sehr unterschiedlich, haben aber gemeinsam, dass mich sehr überrascht hat, wie gut sie mir gefallen und wie nachhaltig sie mich beeindruckt haben.
Auch liegt bei beiden Filmen der Fokus auf dem Thema Tod und wie unterschiedlich Menschen damit umgehen. „Another End“ setzt sich als Science Fiction Film mit einer Alternative zum Tod auseinander, in der Menschen sich noch einmal von dem Geist eines geliebten Verstorbenen verabschieden können, während „Sterben“ eine sehr nüchterne, sehr authentische, sehr deutsche Perspektive wählt – auf eine Art die wahrste Geschichte, die ich je im Kino gesehen habe.
Ich habe im Verlauf der 74. Berlinale fünfzehn Filme gesehen und dennoch (und hierbei handelt es sich um eine universelle Erfahrung, wurde mir gesagt) hatte ich bei der Preisverleihung den Eindruck, viel zu viel verpasst zu haben und ich gedenke, mich nächstes Jahr zu steigern. Die Berlinale ist eine Ode an die Filmkunst, zehn Tage, in denen man Buntheit und Vielfalt feiert, indem man sich mehr kulturellem Input aussetzt, als man jemals verarbeiten könnte. Ich zehre vermutlich noch bis Ende April davon, danach könnte es von mir aus direkt weitergehen.
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