Das „Netzwerk Inklusion“ versteht sich als Anlaufstelle für Filmschaffende mit Behinderung und psychischen und physischen Diagnosen sowie Verbündete.
Inklusives Filmschaffen ist für die Filmwirtschaft und Kultur in Deutschland ein wesentlicher und notwendiger Schritt in die Zukunft. Dennoch sind die Struk- turen in der Filmindustrie für Menschen mit Diagnosen und Behinderungen äußerst diskriminierend (Ableismus). Wir starten nun eine Umfrage zum Thema Selbstauskunft zur Personenausfallversicherung. Die Selbstauskunft dient dem Zweck, Informationen zum Gesundheitszustand aller Personen in tragender Rolle vor oder hinter der Kamera zu erfassen und muss mit einer Schweige- pflichtentbindung vor jedem Dreh an die Personenausfallversicherung über- mittelt werden. In der Vergangenheit hat diese Praxis häufig dazu geführt, dass Menschen mit Behinderungen und Diagnosen von der Arbeit beim Film ausgeschlossen wurden. Wir möchten nun erstmals dazu Zahlen erheben und herausfinden, ob und in welchem Maße die Praxis der Selbstauskünfte und das Unterzeichnen der Schweigepflichtentbindung diskriminierende Auswirkungen auf die Filmschaffenden hat.
Die Umfrage ist fertig und läuft bis Ende August! Jetzt brauchen wir unbedingt viele Filmschaffende vor und hinter der Kamera, die die Umfrage ausfüllen. Hier geht es lang: bit.ly/3NW2UDZ
Wer gehört zum Team?
Johanna: Kristin Suckow und ich kommen vom Netzwerk Inklusion. Wir beide sind Schauspielerinnen und setzen uns für mehr Inklusion in der Filmbranche und darüber hinaus die Filmkultur ein. Außerdem haben Feline Griesel und Yannik Lydssan an der Umfrage mitgearbeitet und uns wissenschaftlich betreut. Feline hat einen B.A. in European Studies und studiert derzeit Gender Studies im Master. Yannik ist M.Sc. Research Master of Arts, Culture & Technology.
Was genau war der Auslöser, diese Umfrage zu starten?
Kristin: Das Problem der Praxis der Personenausfallversicherungen, der Selbstauskunft und der Schweigepflichtsentbindung ist für uns schon länger präsent. Wir befassten uns im Netzwerk Inklusion damit, wie wir konkret die Arbeit in der deutschen Filmindustrie inklusiver gestalten können und haben dabei auch den Blick ins Ausland geworfen. Dabei wurde klar, dass diese Praxis der Selbstauskunft eine entscheidende Barriere darstellt, und hier wollen wir ansetzen. Der entscheidende Auslöser war der Fall des Schauspielers und Drehbuchautors Leonard Grobien. 2022 wurde er als Hauptdarsteller für den Abschlussfilm der Regisseurin Eléna Weiss „Was wir wollen“ an der Hamburg Media School gecastet, in dem es sich um zwei junge Menschen mit Behinderungen drehen sollte. Aber die Filmversicherungsgesellschaft weigerte sich, Leonard zu versichern, als sie von seiner Diagnose (Glasknochen) erfuhren. Die Hamburg Media School riet der Produktion, mit Menschen ohne Behinderungen zu drehen. Das kam für die Produktion nicht infrage. Sie organisierten private Bürgen, die die gesamten Filmproduktionskosten als private Versicherung für Leonard Grobien verdoppelten. Nur so konnte der Film gedreht werden. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, auf offizielle Weise mit Leonard zusammenzuarbeiten.
Johanna: Beim Film „Was wir wollen“ ging es wohlgemerkt nicht um Stunt-Szenen wie in einem Action-Film, sondern um eine Liebesgeschichte. Es wurde auch kein persönliches Gespräch mit Leonard von Versicherungsseite gesucht, wie eigentlich nötig in solchen Fällen. Aktuell läuft der Film übrigens weltweit auf Festivals.
Ihr habt im Vorfeld Stichproben gemacht, was den Versicherungsbogen angeht und die Resonanz war erschreckend. Mögt ihr mal Beispiele geben?
Kristin: Es gab Menschen aus verschiedenen Departments, die uns geschildert haben, wie groß die Sorge davor ist, aufgrund ihrer Diagnosen, Krankheiten oder Behinderungen weniger Arbeit zu bekommen. Es gab Statements von Schauspieler*innen, die ihre Rolle verloren haben aufgrund von psychischen oder körperlichen Diagnosen und Behinderungen, die sie in der Selbstauskunft angegeben haben. Es wird davon berichtet, dass die Selbstauskünfte mit sensiblen Daten in einem Produktionsbüro offen für jeden zugänglich auf einem Schreibtisch lagen, und es gibt auch mehrere Aussagen von schwangeren Filmemacher*innen, die berichten, dass sie ab dem Moment, als ihre Schwangerschaft bekannt wurde, keine Arbeit mehr bekamen, obwohl dies sehr gut möglich gewesen wäre.
Was ist Euer Hauptanliegen? Was möchtet Ihr mit der Umfrage erreichen?
Johanna: Wir möchten mehr Reichweite für das Thema erschließen, Beweiszahlen für die Lage erarbeiten, die wir wahrnehmen und uns besser untereinander vernetzen. Uns ist es wichtig, dass das Tabuthema Versicherungsproblem aufgrund von Behinderung oder/und chronischen Krankheiten auf den Tisch kommt und wir mit Zahlen erschließen können, wie viele Menschen in welcher Weise von dieser Form der Diskriminierung betroffen sind. Unser Ziel ist, uns als Gruppe noch besser zusammenzutun und stärken zu können, damit es irgendwann heißt: Menschen mit und ohne Behinderung und/oder chronischen Krankheiten werden selbstverständlich gleichgestellt versichert und können somit gleichberechtigt in der Filmbranche und am liebsten natürlich auch in jeder anderen Branche arbeiten und Teil sein. Wir möchten Missstände aufweisen und schlussendlich Lösungsansätze finden.
Gerade jemand mit einer körperlich sichtbaren Behinderung wird offen auf dem Tablett serviert. Was ist mit Schau- spieler*innen mit nicht sichtbaren Behinderungen oder Krankheiten wie eben Depressionen, Alkohol- oder Medikamentenkonsum? Wie versucht sich die Umfrage, dieser komplexen Thematik zu nähern?
Feline: Beim Erstellen der Umfrage haben wir darauf geachtet, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen und Krankheiten angesprochen fühlen. Um dies zu erreichen, haben wir immer wieder versucht, verschiedene Perspektiven einzunehmen, damit wir mit den Fragen auch genau die Menschen und ihre Erfahrungen erreichen, die wir erreichen möchten.
Yannik: Die Umfrage erfasst explizit auch Personen mit Diagnosen, die nicht offensichtlich und körperlich sind. Hierfür gibt es entsprechende Antwortoptionen. Das Problem, dass viele Behinderungen und chronische Krankheiten nicht direkt oder teilweise gar nicht sichtbar sind, hat uns länger in der Konzeption der Umfrage beschäftigt. Da der Fragebogen der Versicherungen nur nach diagnostizierten Behinderungen und Krankheiten fragt, haben wir uns dafür entschieden, uns in der Umfrage ebenfalls auf diese zu beschränken. Uns ist bewusst, dass Menschen, deren Probleme undiagnostiziert sind, somit sowohl bei den Fragebögen der Versicherungen, sowie unserer Umfrage durchs Raster fallen.
Fragt Ihr auch nach internationalen Erfahrungen?
Kristin: Unsere Umfrage bezieht sich auf deutsche Produktionen, da es nur hier diese Versicherungspraxis mit Selbstauskünften gibt. In anderen Ländern wird oft die Versicherungssumme anhand der Tätigkeit des Mitarbeitenden oder Spielenden festgelegt. Müssen Bildgestaltende mit der Kamera auf Berge klettern, oder Spielende gefährliche Stunts darstellen, ist die Versicherungs- summe höher als bei einem Dreh im Studio. Wir halten diese Art der Risikoeinschätzung für deutlich diskriminierungsärmer und sehen es als eine Möglichkeit die deutsche Praxis anzupassen.
Gab es bisher Gegenwind und wenn aus welcher Richtung?
Johanna: Als das Netzwerk Inklusion zusammen mit der Initiative Cast Me In von Casting Network auf der Berlinale 2023 eine der Filmversicherungen einlud, öffentlich auf dem Panel zu sprechen, lehnten sie ab und schlugen vor, ins Einzelgespräch zu gehen. Dies hat bis heute nicht stattgefunden...
Was passiert mit den Daten, und nach welcher Methode wertet ihr diese aus?
Yannick: Die anonym erhobenen Daten werden statistisch ausgewertet und die Ergebnisse in einem Bericht festgehalten.
Feline: Zusätzlich werden zentrale Ergebnisse über Social Media und andere Medien veröffentlicht.
Wie kann man Euch bei Fragen am besten kontaktieren?
Johanna: Bei Fragen wendet Euch sehr gern vertraulich an inklusion@proquote-film.de. Wir freuen uns auf Eure Nachrichten!
www.proquote-film.de
Kristin Suckow © David Reisler |
Johanna Polley © Dorothee Falke |
Feline Griesel © Paula Martini |
Yannick Lydssan © privat |
Kristin Suckow ist Film- und Theaterschauspielerin. Sie studierte an der Filmuniversität in Babelsberg und wurde 2016 für ihre herausragende Leistung als Darstellerin mit dem „Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares“ ausgezeichnet wurde. Im ARD-Zweiteiler „Ottilie von Faber-Castell – Eine mutige Frau“ (D 2019) ist sie in der Titelrolle zu sehen. Außerdem sorgte sie in einer Doppel-Hauptrolle im diesjährigen Tatort aus Dresden „Totes Herz“ für Aufsehen, und im September wird die Serie „Tod den Lebenden“ mit Kristin Suckow in einer der vier Hauptrollen veröffentlicht. Mit Johanna Polley und Yasmin Saleh zusammen leitet sie das Netzwerk Inklusion.
„Für mich ist klar, dass es durch vielfältige Filmemacher*innen spannendere Geschichten und ein angenehmeres Arbeitsklima gibt. Letzteres wurde bereits durch Zahlen von Michael Page und in der Charta der Vielfalt belegt. Außerdem geht Inklusion uns alle an – früher oder später. Denn die meisten Menschen mit Behinderung werden im Laufe ihres Lebens behindert. Und Menschen mit Behinderung und Diagnosen sind im Film und Fernsehen deutlich unterrepräsentiert. Ich wünsche mir sehr, dass sich das ändert!“
Johanna Polley arbeitet als Schauspielerin („Es war einmal I*land“, „Es gilt das gesprochene Wort“, „Nebenan“, „Tatort“, „Lindenberg – mach Dein Ding!“, „Sam – ein Sachse“, „Die geschützten Männer“). Seit 2019 engagiert sie sich bei ProQuoteFilm für mehr Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Inklusion im Film, z.B. im eigens gegründeten Netzwerk Inklusion, das sie mit Yasmin Saleh und Kristin Suckow leitet. Seit 2022 ist sie stellvertretende Vorstandsvorsitzende bei ProQuoteFilm. Außerdem ist sie bei VielfaltImFilm Vielfalt im Film aktiv. Sie lebt mit ihrer Hündin in Berlin.
„Mir ist wichtig, dass Repräsentation und Teilhabe von Menschen aus Gruppen, die nicht der Dominanzgesellschaft angehören, stattfinden – vor und hinter der Kamera. Vorbilder können so wichtig sein und den Inhalt eines Projekts sowie das Arbeitsklima in eine positive Richtung verändern (mir hätte das als junger Mensch sehr geholfen). Vielen deutschen Filmen (Fernsehen, Streaming, Kino) geht das meiner Ansicht nach bisher leider noch ab, und da ist so viel Potential, das ausgeschöpft werden kann. Ich wünsche mir diverse und inklusive Perspektiven, Geschichten, Sets, Prä- und Postproduktion, kurz: Filme, in denen die Welt so vorkommt, wie sie schon längst ist. Darin ist für mich natürlich inkludiert, dass auch Menschen mit Behinderung (intersektional gedacht) gebeten sind zu erzählen und ihre Berufe gleichgestellt leben können.“
Feline Griesel zeigte ihr leidenschaftliches Engagement für soziale Themen bereits durch die Gründung und Begleitung diverser aktivistischer Projekte. Nach Ihrem Bachelorstudium an der Universität Maastricht, zog es sie nach Berlin, wo sie derzeit an der Freien Universität Berlin Gender Studies studiert. Nebenbei arbeitet sie für die Filmregisseurin Mo Asumang und ihren neuen Verein Mo:Lab. Ab und zu trifft man sie aber auch auf Parties als Awareness Person an.
„Ich glaube, ich hatte schon als Kind einen starken Gerechtigkeits-Drang und habe mich bereits im jungen Alter darüber geärgert, wenn ich aufgrund meines weiblichen Geschlechts eine andere Behandlung erfahren habe. Als Heranwachsende habe ich verstanden, dass nicht nur Frauen diese Ungleichbehandlung erleben, sondern Menschen aufgrund von ganz unterschiedlichen Merkmalen von Ausschlüssen in der Gesellschaft betroffen sind. Gerade für Menschen mit Behinderung trifft das ja besonders zu. Dabei lerne ich immer weiter dazu, und dies bestärkt meinen Drang, mich sozial zu engagieren. So war es auch mit der Arbeit für das Erstellen dieser Umfrage. Bevor mich Kristin kontaktierte, hatte ich wenig Ahnung von den diskriminierenden Praktiken in der Filmbranche. Jetzt weiß ich mehr und werde nicht aufhören mein Wissen mit anderen Menschen zu teilen.“
Yannik Lydssan hat bereits an unterschiedlichen Forschungsprojekten, u.a. für das Zentrum für Kunst und Urbanistik in Berlin, mitgearbeitet. In seinem interdisziplinären Studium zeigte Yannik viel Leidenschaft und Kreativität in der Arbeit mit Medien- analysen, welches seine Abschlussarbeit „Movement(s) on the Boundaries of Science: The German Movement Constructing COVID-19 as Non-Problematic on Telegram and YouTube“ eindrücklich widerspiegelt. Derzeit unterrichtet er als Dozent an der Alice Salomon Hochschule.
„Als Person, die von Diskriminierung nicht direkt betroffen ist, ist es mir wichtig, Menschen zur Seite zu stehen, die im Leben andere Erfahrungen machen. Durch meine Arbeit zu Medienanalysen ist mir die tragende Rolle, die Film und Fernsehen beim Verbreiten von Ideen und Normen innehaben, bewusst. Mit der diskriminierenden Praxis von Filmversicherungen war ich jedoch nicht vertraut. Diese Praktiken und deren zugrunde liegenden Strukturen offenzulegen und – idealerweise – gegen diese vorzugehen, ist mir ein persönlich wichtiges Anliegen. Ich hoffe, hiermit einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, dass alle Personen einen fairen Zugang zur Produktion von Film und Fernsehen bekommen und somit ein Endprodukt entsteht, welches eine inklusive(re) Idee unserer Gesellschaft abbildet.“
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