Sie ist Schaupielerin, Filmemacherin, Autorin, Podcast-Betreiberin und Coach. Dorothea Neukirchen ist auf vielen Bühnen zuhause – ihre Terminliste ist lang. In den Neunziger- und Nuller-Jahren hat sie auf der Basis ihrer Berufserfahrung als Filmemacherin und Schauspielerin zahlreiche Gruppen-Seminare zum Dreh- buchschreiben, Regie führen und Spiel vor der Kamera geleitet.
Sie ging auf die staatliche Schauspielschule Stuttgart und spielte auf Bühnen in Berlin, Hannover, Aachen, Köln, Osnabrück und Hamburg, u.a. Hauptrollen wie die „Viola“ in „Was ihr wollt“, die „Rosalinde“ in „Wie es euch gefällt“, die „Nathalie“ im „Prinz von Homburg“, die „Cecily in „Bunbury“, die „Miss Angelica“ in „Love for Love“ und die „Tochter des Brunnenmachers“.
Sie verkörperte die weibliche Doppelrolle in einer dreißigteiligen TV-Serie bei der BBC London, spielte und moderierte im Deutschen Fernsehen. Nebenbei schrieb sie bis Drehbücher für Spiel- und Dokumentarfilme und sechs Bücher. Drei ihrer Kurzgeschichten haben literarische Preise bekommen. Ihr Buch „Vor der Kamera. Camera Acting für Film und Fernsehen“ ist in der überarbeitenden Neuauflage erhältlich.
Als sie hinter die Kamera wechselte und selber inszenierte, reduzierte sie das Spielen auf gelegentliche Filmrollen und Sprechertätigkeiten.
2005 kehrte sie mit der weiblichen Hauptrolle in dem Theaterstück „rübergemacht“ zur Schauspielerei zurück. 2021 spielte die rüstige Fünfundsiebzigjährige die Waffenhändlerin „Frau Götz“ in „John Wick Kapitel 4“ (Casting: Kharmel Cochrane, Magalie Combes) mit Keanu Reeves. Von ihren Erfahrungen beim Dreh handelt dieser Artikel, den sie selbst verfasst hat.
Juni 2021. Yeah, Jackpot! Ich bekomme eine Zweitagesrolle in einem amerikanischen Action Film, und das im zarten Alter von Fünfundsiebzig. E-Casting und Zoom-Call machen es möglich. Allerdings bekomme ich nur meine Szenen zu lesen. Geheimhaltung geht in diesem Fall über Drehbuchkenntnis. Selbst im Vertrag steht nur ein Fake-Titel, zudem muss ich eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Die Fans von Keanu Reeves sollen nicht erfahren, was, wann, wo gedreht wird. Ich aber soll mir die früheren Folgen des Blockbusters ansehen, damit ich weiß, auf was ich mich einlasse. Der Bildwert ist fantastisch. Gut, es wird ein bisschen viel geballert für meinen Geschmack, aber die Gewalt ist kein Selbstzweck. Keanu Reeves ist ein tragischer Held, dem nichts anderes übrigbleibt, als sich gegen die Bösen zu verteidigen. Und zwischen den Actionszenen gibt es Zeit für Blicke, für ruhige Dialoge, für Comic Relief.
In diese Kategorie gehört wohl, was ich spielen soll: eine weißhaarige Tierpräparatorin, die unter der Hand mit Waffen dealt. Die Szene ist tricky: Während ich mit John Wick verhandele, soll ich einen Revolver auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, so als hätte ich mein Lebtag nichts anderes getan. Dafür bekomme ich fünf Tage Waffentraining vor Drehbeginn. Das macht Spaß. Die amerikanische Lob-Kultur spornt mich an. Selbst unvollkommene erste Versuche werden mit „awesome - you are doing so well“ belohnt. Hinter mir proben die Martial-Arts-Spezialisten für die Kämpfe. Ich bin fasziniert. Was im fertigen Film blitzschnell abläuft, wird hier sorgfältig und in Zeitlupe angelegt.
Dann wird es ernst: Dreh an „meinem“ Tierpräparatoren-Set in Clärchens Ballhaus bei 34 Grad Hitze und eingenebelten Grizzlybären. Das Team arbeitet hoch arbeitsteilig. Wer für die Haare zuständig ist, darf die Haut nicht anfassen und umgekehrt. Deshalb umschwirren mich zwei Maskenbildner und legen mich zwischen den Einstellungen trocken. Für Sprechrollen gibt es Licht-Doubles. So darf ich während der ausgeklügelten Lichtproben in einen kühleren Raum ausweichen. Sobald ich geholt werde, heißt es: „rolling – action“.
Einmal allerdings erweist sich die Sache mit dem Lichtdouble als Handicap. Für eine dialoglose Szene gibt es nicht mal eine Stellprobe. Mir wird lediglich gesagt, dass ich vor Keanu Reeves die geschwungene Treppe hinuntergehen und den Lichtschalter hinter der Kellertür bedienen soll. Da es laut Drehbuch meine Örtlichkeiten sind, ich sie also gut kenne, verzichte ich auf einen suchenden Blick zum Lichtschalter und - tappe daneben. Abbruch. Adrenalinschock. Ich bitte darum, die entscheidende Treppenkurve samt Lichtschalter vor der zweiten Klappe ein paarmal begehen zu dürfen. Das wird anstandslos respektiert, ist aber angesichts der wartenden Hundertschaft alles andere als entspannt.
Der Dreh verläuft uhrwerksmäßig, leise und präzise. Der Regisseur war früher Stuntkoordinator. Seine schauspielerischen Anweisungen sind eher spärlich. Für mich geht es darum, Positionen einzuhalten, die Waffe zu bedienen und dabei den Text unfallfrei abzuliefern. „You are doing great“, sagt eine Dame im Vorübergehen. Später erfahre ich, es war die Produzentin. Am nächsten Tag ein Nachtdreh. Scheinwerfer tauchen die Unterführung in eine Farbigkeit, die sie ins märchenhafte überhöht. Drehschluss ist um vier Uhr morgens.
März 2023. Endlich der durch Corona um ein Jahr verschobene Kinostart. Begleitet von Freundinnen gehe ich ins Kino. Die Bilder sind gigantisch. Der Sound ist überwältigend. Das satte Tiefenvibrato der Synchronstimme von Keanu Reeves unterstreicht die Bedeutsamkeit seiner wenigen Worte. Die Settings sind spektakulär und die Actionszenen sind ebenso durchchoreographiert wie der Realität enthoben. Der Held hat eindeutig mehr Leben als die sprichwörtlichen sieben einer Katze. Es gibt mehr Verfolger, mehr Brutalität, mehr Autos und mehr Tote als in der Folge, die ich gesehen habe. Anscheinend müssen die Reize von Folge zu Folge gesteigert werden. Manchmal ist es so laut, dass ich mir die Finger in die Ohren stecke.
Aber von der Sequenz in einem Berliner Club bin ich begeistert. Da wird inmitten der Feiernden gekämpft und gekillt. Die Tanzenden ignorieren es oder gehen gerade mal einen Meter beiseite. Was für ein Statement zu unserer Zeit!
Als sich die Handlung von Berlin nach Paris verlagert, fällt mir auf, dass meine Szenen noch nicht vorgekommen sind. Und als der tragische Held einsam im Morgenlicht auf der Treppe von Sacré Coeur liegt, da dämmert es mir: Meine Rolle wurde herausgeschnitten!
Klar. Der Film dauert auch ohne mich schon fast drei Stunden. Außerdem spielt es nie eine Rolle, woher der Held seinen Nachschub an Waffen und Munition erhält. Sie sind einfach da. Da ist kein Platz für eine Waffenhändlerin, die herumknausert und John Wick nur die Pistole gibt, die er bezahlen kann.
„Kill your darlings“, heißt ein alter Filmspruch. Ob meine Szenen mit dem Star, die im Schneideraum unter den Tisch gefallen sind, tatsächlich ein Darling waren, werde ich nie erfahren. Aber missen möchte ich diesen Dreh trotzdem nicht.
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