Filme und Serien bieten endlich ein realistisches Abbild der Gesellschaft, aber Menschen mit Behinderungen tauchen nach wie vor viel zu selten auf. Seit einigen Jahren lassen sich in deutschen TV-Filmen und Serien deutliche Veränderungen beobachten. Nebenrollen von Ärzt*innen oder Schulleiter*innen werden von schwarzen Schauspieler*innen verkörpert, in vielen Serien gibt es gleichgeschlechtliche Beziehungen, und wenn jemand einen offenkundigen Migrationshintergrund hat, wird das nicht weiter thematisiert. Zuletzt häuften sich zudem Geschichten über Personen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen. Auch das Fernsehen ist also endlich in der Wirklichkeit angekommen und spiegelt das wahre Leben wider – mit einer Ausnahme: Menschen mit einer sichtbaren Behinderung sind in Filmen und Serien heutzutage genauso selten wie vor zwanzig Jahren schwarze Akademiker*innen. Laut statistischem Bundesamt lag die Zahl der Schwer- behinderten 2019 bei 9,5 Prozent, aber nach einer 2021 veröffentlichten Studie des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock sind sie im Fernsehen eindeutig unterrepräsentiert: Von den wichtigsten Akteur*innen der untersuchten Sendungen hatten bloß 0,4 Prozent eine sichtbare schwere Behinderung. Zu einem in der Tendenz ähnlichen Ergebnis kommt eine interne Untersuchung der Produktionsfirma UFA. Dabei sind 45 eigene Filme und Serien analysiert worden. Nur 1,6 Prozent der dargestellten Figuren waren Menschen mit Behinderung. Hat die Film- und Fernsehbranche diese Gruppe vergessen?
Bild aus: „Gottes vergessene Kinder“ | Bild aus: „Rain Man“ |
Natürlich gibt es prominente Beispiele, die ein anderes Bild nahelegen, und das nicht nur aus Hollywood, wo solche Rollen gern mit „Oscars“ gekrönt werden, etwa für Marlee Matlin als gehörlose Hauptdarstellerin von „Gottes vergessene Kinder“ (1986) oder für Dustin Hoffman als Autist in „Rain Man“ (1988). „Jenseits der Stille“ (1996), Caroline Links Drama über eine Tochter gehörloser Eltern, war für den „Oscar“ als „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert. Auch im Fernsehen scheint kein Mangel zu bestehen: Titelheldin der ARD-Serie „Die Heiland“ ist seit 2018 eine blinde Rechtsanwältin, im „Wien Krimi: Blind ermittelt“ ermittelt ebenfalls seit 2018 ein früherer Polizist ohne Augenlicht, in der ZDF/ORF-Reihe „Die Toten von Salzburg“ sitzt seit 2016 einer der beiden Ermittler seit einem Gleitschirmunfall im Rollstuhl. ChrisTine Urspruch genießt als kleinwüchsige Assistentin des Rechtsmediziners im „Tatort“ aus Münster sogar Kultstatus und hat im ZDF von 2014 bis 2019 eine eigene Serie bekommen, deren Titelfigur sinnigerweise „Dr. Klein“ heißt. Die vielfach ausgezeichnete Vox-Serie „Club der roten Bänder“, welche von 2015 bis 2017 gesendet wurde, handelt von jugendlichen Langzeitpatienten in einem Krankenhaus. Woran es jedoch noch mangelt, ist die selbstverständliche Integration: Menschen mit Behinderung werden in der Regel über ihre Einschränkungen definiert. Rühm- liche Ausnahme ist der „Tatort“ vom RBB: In den Filmen spielt Tan Çağlar den Reviermitarbeiter für die Hintergrundrecherche. Der Schauspieler hat eine Rückenmarkserkrankung, er sitzt wirklich im Rollstuhl.
Bild aus: „Tatort Münster – Es lebe der König“ | Bild aus: „Tatort Berlin“ |
Diesen Aspekt – ist die Einschränkung echt oder wird sie nur gespielt? – hat das Rostocker Forschungsteam allerdings nicht codiert. Die Schlussfolgerung, dass die Zahl der behinderten Mitwirkenden mithin ähnlich niedrig sei wie die codierten 0,4 Prozent, ist jedoch ein Trugschluss: „Vor der Kamera“, sagt der Drehbuchautor von „Contergan“, Benedikt Röskau, „agieren deutlich mehr Menschen mit Behinderung, als man glaubt. Viele Schauspieler*innen sprechen darüber jedoch nicht, weil sie fürchten, nicht mehr besetzt zu werden.“ Menschen mit sichtbaren Einschränkungen hätten es ohnehin schwerer als andere, „weil sie meist nicht über die ‚große Nebenrolle’ hinauskommen. Das ist eine der vielen Glasdecken in unserer Branche.“ Fiktion im deutschen Fernsehen bestehe nun mal größtenteils aus Krimis, aber eine Verfolgungsjagd mit einem Ermittler im Rollstuhl sei nicht gerade glaubwürdig. Tatsächlich gab es das schon: In der ZDF-Serie „Mein Freund, das Ekel“ von 2021 liefern sich die Titelfigur, gespielt von Dieter Hallervorden, und ein von Thorsten Merten verkörperter Hausmeister ein witziges Duell zwischen Rollstuhl und Aufsitzrasenmäher.
Bild aus: „Contergan“ | Bild aus: „Mein Freund, das Ekel“ |
Im Unterschied zu Hallervorden sitzt Erwin Aljukic auch nach Drehschluss im Rollstuhl. Der Schauspieler hat im einstigen ARD-Dauerbrenner „Marienhof“ von 1998 bis zum Ende der Serie 2011 mitgewirkt. Aljukic hat die Glasknochenkrankheit. Er gehört zu den Unterstützer*innen einer Initiative, die von Tina Thiele, der Gründerin des Branchenportals casting-network, ins Leben gerufen wurde. CAST ME IN soll zur Inklusion vor der Kamera beitragen. Thiele erläutert ihre Motive mit einem Zitat der Soziologin Susanne Keuschel. Die Präsidentin des Deutschen Kulturrats habe mit Blick aufs Theater diagnostiziert, was auch für die Film- und Fernsehbranche gelte: „Es gab mal eine Zeit, in der Frauen auf der Bühne keine Frauen spielen durften. Diese seltsame Situation haben wir jetzt bei Menschen mit Behinderung.“ Aljukic ist Thiele sehr dankbar für ihre Pionierarbeit: „Bislang bin ich mir als Schauspieler mit Behinderung wie ein Einzelkämpfer vorgekommen, denn anders als die Mitglieder anderer marginalisierter Gruppen konnte ich nie auf eine Initiative in der Art von ‚#actout‘, ‚Black Lives Matter‘ oder ‚Metoo‘ verweisen. Erst wenn es eine derartige Bewegung gibt, die eine Sichtbarkeit der Betroffenen erzeugt, können sich die Sender nicht mehr rausreden.“ Die wollen das offenbar auch gar nicht. Ausgerechnet die RTL-Gruppe ist mit gutem Beispiel vorangegangen: In der vergnüglichen Komödie „Weil wir Champions sind“ (Vox) spielt Wotan Wilke Möhring einen erfolgsverwöhnten Basketball-Coach, der nach einer alkoholisierten Autofahrt Sozialstunden ableisten muss: Bei einem Team, das ausschließlich aus Menschen mit geistiger Behinderung besteht.
Bild aus: „Weil wir Champions sind“ | Bild aus: „Campeones“ |
Schon allein der Casting-Prozess verdeutlicht die Ausnahmestellung des Projekts, das auf dem spanischen Kinofilm „Campeones“ von 2018 basiert: Die Suche nach den Darsteller*innen dauerte vier Monate. Die RTL-Mediengruppe bezeichnet den Film, dessen Handlungsrahmen an die ähnlich unterhaltsame Sat.1-Komödie „Die Mongolettes – Wir wollen rocken!“ von 2012 erinnert, als „eines der inklusivsten deutschen Filmprojekte“. Die Dreharbeiten hatten laut der Constantin-Produzentin, Nina Viktoria Philipp, nur wenig mit herkömmlichen Fernsehfilmen gemein: „Bei vielen Mitgliedern unseres Ensembles ist Routine ein ganz wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens, weil sie ihnen Sicherheit gibt; das ist bei dem Wanderzirkus, den eine Filmproduktion darstellt, gar nicht zu gewährleisten. So etwas kann nur funktionieren, wenn es eine Bezugsperson gibt, zu der sie Vertrauen haben und die ihre individuellen Bedürfnisse berücksichtigt.“ Dennoch sei es kein Problem gewesen, die Geldgeber*innen trotz der zusätzlichen Kosten von dem Projekt zu überzeugen. Bei RTL habe man die Kraft dieses Stoffes sofort erkannt und einen Satz gesagt, der die Produzentin sehr beeindruckt habe: „Wir haben als Sender die Verantwortung, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.“
Hauke Bartel, Fiction-Chef bei RTL-Deutschland, bekräftigt den Hinweis auf die Verantwortung, berichtet von einem internen „Leitfaden für Diversity“ und nennt als eines der Ziele, „bewusst, spielerisch und entlarvend mit Stereotypen umzugehen.“ Auch in den täglichen Serien „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und „Alles was zählt“ werde besonderer Wert darauf gelegt, ein realistisches Abbild der Gesellschaft zu zeigen, deshalb seien Figuren mit Migrationshintergrund oder Beeinträchtigung seit Jahren fester Bestandteil der Geschichten. Oft werde dies „aber bewusst nicht explizit zum Thema gemacht, um gerade dadurch absolute Normalität zu erzählen.“ Bei Netflix spiele Inklusion seit jeher eine ganz entscheidende Rolle, versichert eine Sprecherin des amerikanischen Streamingdienstes: „Inklusive Geschichten sowie eine vielfältige Besetzung vor und hinter der Kamera sind ein Kernbestandteil unserer Strategie.“ Als Beispiel führt sie die unter anderem 2020 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnete Serie „How To Sell Drugs Online (Fast)“ an. Eine der Hauptfiguren, gespielt von Danilo Kamperidis, sitzt im Rollstuhl.
Bild aus: „Die Mongolettes – Wir wollen rocken!“ | Bild aus: „How To Sell Drugs Online (Fast)“ |
Auch Degeto-Redaktionsleiter Christoph Pellander betont, Vielfalt im Fernsehen sei wichtig, „denn Filme spiegeln und formen unser Bild der Gesellschaft.“ Die ARD-Tochter, die nicht nur die Donnerstagskrimis und Freitagsfilme im „Ersten“ verantwortet, sondern auch an vielen Kinokoproduktionen beteiligt ist, will zukünftig „noch stärker die Perspektive von Menschen mit diversem Hintergrund einnehmen.“ Das bedeute vor allem, Geschichten entsprechend facettenreich zu erzählen: „in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit, Alter, sexueller Orientierung, kulturellem und religiösem Hintergrund oder auf Menschen mit Behinderung.“ Frank Zervos, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie I und Stellvertretender Programmdirektor, merkt allerdings an, dass die filmische Darstellung von Behinderungen eine sensible Angelegenheit sei: „Zum einen soll die Gesellschaft möglichst breit und in allen Facetten abgebildet werden, gleichzeitig dürfen aber auch keine reinen Stereotype – hochbegabter Autist, musikalische Blinde etc. – reproduziert werden. Wir sollten uns Menschen mit Behinderung daher mit der gleichen Differenziertheit und dem Mut zur Ambivalenz widmen, wie wir das auch bei der Darstellung von nichtbehinderten Menschen tun.“ Nachholbedarf gibt es laut Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie, zudem in der Frage, wer solche Rollen übernehme: „Ich habe Verständnis für jene, die bemängeln, dass wir noch zu selten Menschen mit Behinderung als Schauspieler*innen vor der Kamera sehen.“
Dieser Aspekt taucht in den Gesprächen über das Thema früher oder später fast zwangsläufig auf. Constantin-Produzentin Philipp war auch für die ersten beiden „Heiland“-Staffeln verantwortlich. Bei der Planung der Serie habe es eine enge Zusammenarbeit mit entsprechenden Verbänden gegeben, und natürlich sei gefragt worden, warum die Hauptfigur nicht von einer blinden Darstellerin gespielt werde. Philipps Antwort: „Die Schauspielerei ist ein Handwerk, ein Beruf, den man gelernt haben sollte. Die Rolle erfordert nicht nur großes Können, es gibt auch eine große Frequenz an Drehtagen. Selbstverständlich haben wir nach einer blinden Hauptdarstellerin gesucht, aber wir haben keine gefunden, die für diese Figur infrage gekommen wäre.“ Der Wesenskern von Schauspielerei bestehe darin, sich in eine Figur hineinzuversetzen; und dazu gehörten natürlich auch körperliche oder geistige Versehrtheiten, „aber wenn es einen Menschen gibt, der diese Versehrtheit bereits mitbringt und auch über die schauspielerische Qualität verfügt, dann gibt es keinen Zweifel, wer die Rolle bekommt.“
Bild aus: „Die Heiland – Wir sind Anwalt“ | Erwin Aljukic © Dennis König |
Erwin Aljukic ist natürlich gleichfalls der Ansicht, dass solche Figuren authentisch besetzt werden sollten, aber er kann nachvollziehen, dass eine Produktionsfirma für schwierige Rollen lieber jemanden mit entsprechender Erfahrung engagiere. Umso wichtiger sei es, „dass Menschen mit Behinderung eine professionelle Ausbildung machen können, damit solche Verlegenheitslösungen in Zukunft nicht mehr nötig sind.“ Deshalb ist er auch Verfechter einer Diversitätsquote, damit endlich Bewegung in die Sache kommt: „Ähnlich wie in Großbritannien sollte die Vergabe öffentlicher Gelder mit der Auflage verbunden sein, divers zu besetzen. Das wäre der Stein, der alles andere ins Rollen bringen würde.“ Röskau kann die Forderung nachvollziehen, gibt aber zu bedenken, dass sich das Bedürfnis nach politischer Korrektheit mitunter wie ein Netz über den Besetzungsvorgang lege: „Es sollte keine absurden Ausmaße annehmen. Trotzdem erwarte ich von Buch, Regie, Produktion und Redaktion, dass sie sich stets die Fragen stellen: Kann ich eine Rolle auch gegen das Klischee besetzen? Dann brauchen wir keine Quote.“
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Castings: „Gottes vergessene Kinder“ Gretchen Rennell | „Rain Man“ Louis DiGiaimo | „Jenseits der Stille“ Risa Kes, Kinder & Jugendliche: Nessie Nesslauer | „Die Heiland“ Daniela Tolkien (BVC), Haupt- und Nebencast ab 2018: Charlotte Siebenrock (BVC) | „Blind ermittelt“ und „Die Toten von Salzburg“ Nicole Schmied (ICDN) | „Tatort“ aus Münster Anja Dihrberg-Siebler (ICDN), Antje Wetenkamp, Siegfried Wagner (BVC), Marc Schötteldreier (BVC) u.a. | „Club der roten Bänder“ Iris Baumüller (BVC | ICDN) | „Tatort“ mit Tan Çağlar Johanna Hellwig | „Contergan - eine einzige Tablette“ Sabine Schwedhelm, Italy: Cornelia von Braun (BVC) | „Mein Freund, das Ekel“ und „Die Mongolettes – Wir wollen rocken!“ Uwe Bünker (BVC | ICDN) | „Marienhof“ ab 1998 Silke Klug-Bader | „Weil wir Champions“ Iris Baumüller (BVC | ICDN), Casting für Menschen mit Beeinträchtigung: Sven Harjes | „Campeones“ Jorge Galeón | „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ Haupt- & Episodencast Staffel 1-6: Simone Bär (CSA | ICDN), Staffel 1-11: Heidi Krell, Staffel 7-11: Sarah Lee, Staffel: 11-12 Greta Amend, ab Staffel 11: Nina Houwer und Nadine von Volkmann | „Alles was zählt“ Haupt- und Nebenrollen 1.-11. Staffel: Charlotte Siebenrock (BVC), Hauptcast seit Staffel 8: Kristin Diehle (BVC), Neben- und Tagesrollen seit Staffel 8: Tina Rinderspacher (BVC) | „How To Sell Drugs Online (Fast)“ Haupt- & Episodencast Staffel 1: Simone Bär (CSA | ICDN), Marc Schötteldreier (BVC), Hauptrollen Kinder & Jugendliche: Patrick Dreikauss, Staffel 2 Episodencast: Liza Stutzky, Staffel 3 Episodencast: Marc Schötteldreier (BVC)
Telefon: | 0221 - 94 65 56 20 |
E-Mail: | info@casting-network.de |
Bürozeiten: | Mo-Fr: 10:00 - 18:00 Uhr |
© 2005-2024 Gesichter Gesucht & casting-network
Internetagentur - die profilschmiede
Datenschutzeinstellungen