Judyta Smykowski wurde 1989 in Hamburg geboren, studierte Onlinejour- nalismus und Kulturjournalismus in Darmstadt und Berlin. Heute arbeitet sie als Redaktionsleiterin des Onlinemagazins und des Podcasts „Die Neue Norm“ beim gemeinnützigen Vereins „Sozialhelden“, einem Netzwerk aus ehrenamtlich engagierten Menschen, die sich mit verschiedenen Aktionen für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Außerdem arbeitet sie als freie Journalistin. Das Projekt Leidmedien.de der „Sozialhelden“ wurde 2012 zu den Paralympics in London gegründet, um Journalist:innen Tipps für eine Berichterstattung über behinderte Menschen auf Augenhöhe zu geben. Ein Team aus Medien- schaffenden mit und ohne Behinderung berät seitdem Redaktionen, um Berührungsängste abzubauen und Begegnungen zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen zu schaffen.
Was steckt hinter dem Projekt „Leidmedien“?
„Leidmedien“ ist ein Projekt des Vereins Sozialhelden, bei dem es um Sprache und den Umgang mit dem Thema Behinderung in den Medien geht. Wir trai- nieren zum Beispiel viele Journalist:innen darin, sprachliche Klischees über Menschen mit Behinderung zu vermeiden. Wir empowern aber auch Journalist:innen mit Behinderungen. Und es gibt eine dritte große Säule, die das Schreiben von fiktionalen Stoffen behandelt, vor allem wenn es darum geht, Klischees über Menschen mit Behinderungen entgegenzuwirken – sprich, wir coachen Drehbuchautor*innen.
Ihr bietet einen Workshop zum Thema „Sensibilisierung für behinderte Figuren in Drehbüchern, Filmen/Serien und authentische Darstellung“ an. Wie kam die Idee dazu zustande?
Im Grunde lief es Hand in Hand: Wir hatten den Wunsch, fiktionale Formate zu beraten und einige Drehbuchautor*innen kamen auf uns zu, bevor sie Stoffe über Menschen mit Behinderungen entwickelt haben, mit dem Wunsch einer beratenden Funktion. Dadurch wurde uns auch erstmals bewusst, wie viel Macht Drehbuchautor:innen haben, nicht nur die Realität abzubilden, sondern auch Fiktion zu formen. Wir stehen in der Entwicklung in beratender Funktion zur Seite und hinterfragen Storys, Figuren und Handlungsstränge. Am Ende wollen wir es schaffen, dass Behinderungen in der Fiktion als Eigenschaft wahrgenommen werden und nicht als Alleinstellungsmerkmal. Nehmen wir das klassische Beispiel einer Rechtsanwältin im Drehbuch – wir möchten es zu einer Selbstverständlichkeit machen, dass auch Menschen mit Behinderungen zum Casting eingeladen werden, ohne dass drumherum eine ganze Ursprungsgeschichte der Behinderung erzählt wird. Zehn Prozent aller Menschen in Deutschland haben eine Behinderung, aber nicht jeder zehnte Mensch ist betroffen. Diese Menschen finden also oft in den Medien nicht statt, weil sie in abgetrennten Systemen leben.
Wie berichtet man ohne Klischees über behinderte Menschen?
Bewunderung und Mitleid sind zwei Emotionen, die ich als Mensch mit Behinderung sehr häufig erlebe, die ich aber als problematisch empfinde.Wenn ich zum Beispiel als behinderte Person auf eine WG-Party komme, schlägt mir Bewunderung entgegen, allein schon weil ich dort auftauche. Das steht in völliger Diskrepanz zu dem, wie ich das Leben wahrnehme, denn für mich ist das eine absolute Selbstverständlichkeit, und Partys gehören zu meinem Leben dazu. Es gibt auch oft das Klischee, dass behinderte Menschen überhaupt nicht am Sozialleben teilnehmen. Diese Annahme sollte hinterfragt werden. Missverständnisse entstehen oft aus einem fehlenden Austausch. Wir möchten einfach Teil der Masse sein. Viel zu oft erzeugt das Darstellen von behinderten Menschen im Film und Fernsehen beim Zuschauer ein Gefühl des Wohlfühlens – nach dem Motto: „Ein Glück geht es mir besser, ein Glück habe ich keine Behinderung.“ Bei dieser Reaktion kommt es allerdings – ob bewusst oder unbewusst – zu einer Abwertung von behinderten Personen. Und das sollte eben nicht so sein.
Wie lenkt man denn den Fokus von der Behinderung auf die Geschichte der Protagonist:innen?
Im Journalismus gibt es einen Aufhänger, warum berichtet wird. Das verhält sich ähnlich im Film- und Fernsehbereich und oft ist Behinderung der Grund der Berichterstattung bzw. der Erzählung. Die Behinderung und die meist negativen Reaktionen darauf spielen dann eine große Rolle im Film. Wir wollen es schaffen, dass die Behinderung einfach auf eine ganz natürliche Art und Weise dazugehört. Wir haben vor kurzem einige Folgen einer Vorabendserie beraten, in der eine Lehrerin, aufgrund eines Unfalls, im Rollstuhl saß. Diese Figur war extrem verbittert beschrieben. Klar ist jeder Mensch nach einem Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen, aber ziemlich viele Menschen arrangieren sich mit Situationen und sind Gewohnheitstiere. Und jene Menschen sagen sich nach geraumer Zeit eben auch: „Schicksalsschläge gehören zum Leben dazu.“ In dem Fall haben wir also die verbitterten Charakterzüge dieser Figur hinterfragt und angemerkt, dass nicht jede:r Rollstuhlfahrer:in automatisch verbittert ist, nur weil er/sie im Rollstuhl sitzt – ein gängiges Klischee. Generell gilt es immer wieder, das Erzählte zu hinterfragen und vor allem auch zu hinterfragen, warum ich diese Geschichte erzählen möchte.
Darüber hinaus bietest Du/Ihr auch Workshops im Fachbereich Drehbuch an?
Ja, wir arbeiten dabei oft mit Beispielen aus Netflix-Produktionen, weil diese in Bezug auf einen natürlichen Umgang mit Diversität schon gut umgesetzt sind, beispielsweise bei der Serie „Sex Education“, wo der Antagonist eine Behinderung hat, ohne dass diese in den Fokus gerückt wird. Generell muss ich in diesem Fall wirklich unterstreichen: Das ist keine Serie, die mit dem Hammer dafür sorgen will, dass Diversität in die Köpfe der Zuschauer geprügelt wird. Bei der Serie „Ginny und Georgia“ gibt es einen tauben Vater, dessen Diagnose nicht näher beleuchtet wird. Was ja auch immer angeschafft und mühselig wirkt, ähnlich wie man sehr oft bei POC’s thematisiert hat, dass sie gut Deutsch sprechen.
Wer bucht diese Workshops?
Vorwiegend Drehbuchautor*innen und Produzent*innen. Ein Beispiel: Beim Film „Die Goldfische“ kam der Drehbuchautor und Regisseur auf uns zu, der in dem Fall ein und dieselbe Person war. Aber auch Menschen, die Programmankündigungen schreiben oder Kurator*innen und Caster*innen.
Was ist für Dich Behinderung?
Mit dem gern benutzten Satz „jeder Mensch hat eine Art von Behinderung“ wäre ich zum Beispiel sehr vorsichtig. Denn gerade im gesellschaftlichen Kontext soll der Behinderten-Status natürlich Vorteile bringen und das Leben von behinderten Menschen leichter machen. Im Alltag gibt es noch ziemlich viel zu tun: Kinos, Dönerbuden oder Kaffees sind oft nicht barrierefrei. Daher gibt es eine Art Nachteilsausgleich durch den Status. Ich würde eher sagen: Wir sind alle verschieden. Und diese Verschiedenheit sollten wir zeigen, ohne ein großes Ding daraus zu machen. Außerdem müssen Menschen mit Behinderung auch in bestimmte Positionen kommen, wo sie Teil der Entstehungsprozesse sein müssen, zum Beispiel auf Produktionsebene.
Bist Du für eine Quote?
Ja. Mittlerweile schon, weil sich sonst sehr wenig ändert. Wir wollen auch im Zuge dessen nicht den „alten weißen Mann“ abschaffen, sondern an seine Verantwortung appellieren, Türen für Menschen zu öffnen, die eben nicht privilegiert sind.
Thema „Cripping-Up“. Was ist das für Dich und welche Haltung hast Du dazu?
Wenn nicht behinderte Menschen, Menschen mit Behinderungen spielen, ist das auf der ersten Ebene Teil der Schauspielkunst, denn man spielt jemanden, der man nicht ist. Aber ich sehe das eher so, dass nicht behinderte Kolleg:innen den behinderten Kolleg:innen den Job wegnehmen. Das klingt krass, aber hat den einfachen Ansatz, dass die Schauspieler:innen mit Behinderung schon von Natur aus alles mitbringen, was eine solche Rolle braucht und sie brauchen auch kein Coaching mehr. Sie können mit ihrer Identität dazu beitragen, dass ein Projekt gut und authentisch wird.
Nun gibt es in dem Sinne ja keine gestandene Schauspielstruktur von Menschen mit Behinderung.
Was würdest Du der Branche hier raten?
Gegenfrage: Was ist professionell? Es gibt so viele Menschen, die einfach in diese Branche reingerutscht sind – ohne Ausbildung und ohne Behinderung. Ich glaube, es geht darum, die Strukturen so aufzubrechen, dass einfach eine gemeinsame Offenheit entsteht, und dass man gemeinsam Lösungen findet, dass alle Teil dieser Branche sein können.
Was ist Deiner Meinung nach die wichtigste Stellschraube, die es für mehr Diversität im Film- und Fernsehbereich zu drehen gibt?
Wir brauchen mehr Zusammenhalt, mehr Offenheit und einen Aufruf an die im System etablierten Menschen, die einfach diverser denken und Menschen mit einer scheinbaren äußeren Andersartigkeit Türen öffnen.
Wie viele Menschen mit Behinderungen gibt es deutschlandweit und woran ist dies festzumachen?
Zahlen zu Behinderung findet Ihr hier: www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen,
und hier ein weiterer Text zum Thema: www.leidmedien.de/aktuelles/behinderung-kino
www.leidmedien.de/workshop | www.sozialhelden.de
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Castings: „Sex Education“ Lauren Evans | „Ginny und Georgia“ John Buchan, Jason Knight, Alyssa Weisberg | „Die Goldfische“ Iris Baumüller (BVC | ICDN)
© Andi Weiland
Telefon: | 0221 - 94 65 56 20 |
E-Mail: | info@casting-network.de |
Bürozeiten: | Mo-Fr: 10:00 - 18:00 Uhr |
© 2005-2024 Gesichter Gesucht & casting-network
Internetagentur - die profilschmiede
Datenschutzeinstellungen