Anne Gersdorff engagiert sich für Inklusion in den Bereichen Bildung und Arbeit. Beim Netzwerk für betriebliche Integration und Sozialforschung e.V. (BIS e.V.) begleitete sie Menschen mit Behinderungen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt lernten und arbeiteten. Anne sitzt in einem elektrischen Rollstuhl und beschäftigt neun Assistent*innen, die ihr ihre Kraft leihen. Bei den Sozialheld*innen ist sie seit Anfang 2019 als Projektreferentin für „JOBinklusive“ tätig. Die Mitarbeiter*innen von Sozialheld*innen sensibilisieren Menschen, Institutionen und Unternehmen dafür, dass Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe bei den verschiedensten Produkten und Dienstleistungen wahr- genommen und mitgedacht werden (disability mainstreaming). Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus unterstützen sie Unternehmen dabei, Probleme zu entdecken, neue Perspektiven einzunehmen und Lösungen zu entwickeln. Wir sprachen mit Anne über ihre Arbeit, den bürokratischen Aufwand für einen Menschen mit Behinderung und ein festgefahrenes System, das wenig wirkliche Inklusionsarbeit möglich macht.
Gibt es eine juristische Definition für einen Menschen, der behindert ist?
Es gibt die UN-Behindertenrechtskonvention, ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die besagt, dass ein Mensch nicht nur durch seine Behinderung beeinträchtigt ist, sondern auch durch seine Gesamtsituation beeinflusst wird. Im deutschen Sozialgesetzbuch gibt es auch eine Definition. Dort gibt es einen Zusatz, der besagt, dass körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit dieser Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wenn wir über den Bereich Arbeit reden, gibt es dort eine Art Gleichstellung für chronisch kranke oder Menschen mit einer Lernschwäche.
Was ist Dein Beruf, und wie war Dein Weg dahin?
Ich würde mich als Referentin bezeichnen, war auf einer Förder- und dann auf einer inklusiven Schule, habe nach dem Abitur ein Praktikum in einer Beratungsstelle gemacht, dann Soziale Arbeit studiert und in einem kleinen Verein gearbeitet, der eine Beratungsstelle von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung war. Der Fokus lag allerdings eher auf dem Weg in den Arbeitsalltag. Ich wollte dann einen Masterstudiengang machen und habe im Zuge dessen bei einem anderen Verein angefangen, der an inklusiven Rahmenbedingungen in Betrieben gearbeitet hat – mit dem konkreten Ziel, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur auf die Behinderten-Werkstätten angewiesen sind. Dabei entstand ein Netzwerk, und so bin ich letztendlich zu den Sozialheld*innen gekommen.
Was beinhaltet Deine Arbeit bei den Sozialheld*innen?
Ich arbeite im Bereich „JOB inklusive“. Wir verstehen uns als Brückenbauer*innen zwischen allen Akteur*innen, die in diesem Bereich tätig sind. Das sind auf der einen Seite Menschen mit Behinderungen, die sich auf Jobs bewerben wollen, und auf der anderen Seite Unternehmen, die gerne einen inklusiven Weg gehen wollen, aber nicht genau wissen wie – und natürlich die Politik. Es gibt wahnsinnig viel Geld, welches in Deutschland für Inklusion ausgegeben wird, aber letztendlich nicht dort ankommt, wo es ankommen soll. Wir versuchen, dieses sogenannte „schwarze Loch“ zu stopfen und die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo wirklich inklusive Arbeit geleistet wird.
Welche Unterstützung bekommt ein Mensch mit Behinderung vom Staat oder der Krankenkasse?
Das kann man pauschal nicht sagen, denn jeder Fall ist anders. In der Regel brauchen sehr viele Menschen mit Behinderung, gerade in der Schauspielbranche, eine Arbeitsassistenz für alltägliche Dinge, die ein Mensch mit Behinderung allein nicht schaffen kann. Man muss bei jedem Fall ganz individuell schauen, welche Gelder bzw. Institutionen angefragt werden können. Ob Pflegekasse, Sozialamt, Arbeitsamt oder Krankenkasse – das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Der Aufwand ist oft groß, aber er lohnt sich.
Gibt es eine Stelle, die das Ganze koordiniert, oder muss man jede Stelle einzeln anschreiben?
In der Theorie ist es so, dass man einen Antrag an einer der zuvor genannten Stellen in die Wege leitet, und die sich dann um alles Weitere kümmern müssen. In der Praxis ist das natürlich nicht so, und es kommt zu vielen bürokratischen Komplikationen. Menschen mit Behinderung können aber Hilfe von bundesweiten Teilhabeberatungsstellen einfordern, von denen es immer mehr gibt. Dort sitzen viele fitte Leute, meist selbst mit Behinderungen, die sich mit den Rahmenbedingungen gut auskennen. In der Regel sind die Initialstellen die Agentur für Arbeit, das Jobcenter und die Krankenkasse, an die man sich wenden muss. Das gilt aber vor allem im Bereich der personellen Unterstützung. Es gibt ja auch noch den Bereich der technischen Unterstützung: also für Hilfsmittel, die benötigt werden, um barrierefrei zu arbeiten – insbesondere Software oder eine spezielle Tastatur, um als Rollstuhlfahrer schreiben zu können. Bei psychischen Erkrankungen, beispielsweise einer Depression, sollte man sich, bevor man wieder in den Job einsteigt, eine Beratung gönnen. Ist es wirklich sinnvoll, im Fall eines Schauspielenden mit einer psychischen Erkrankung, direkt mit einer größeren Rolle wieder einzusteigen, oder reicht da vielleicht erst mal eine Tagesrolle?
Darfst Du das Geld, welches Du verdienst, behalten?
Wie verrechnet sich das mit deinen sozialen Hilfsleistungen?
Meine Leistungen sind einkommens- und vermögensabhängig. Das heißt: Wenn ich mehr als einen bestimmten Betrag im Monat verdienen würde, müsste ich meine Assistenz- und Hilfsmittel selbst zahlen. Außerdem darf mein Vermögen 50.000 Euro nicht überschreiten. Altersvorsorge oder ein Immobilienkauf werden in meinem Fall also nie möglich sein. Aber das Leben als Mensch mit Behinderung ist einfach teurer. Nehmen wir als Beispiel das Thema Urlaub: Ich kann nicht ohne Weiteres Backpack-Urlaub in Thailand machen, sondern benötige oft ein Vier-Sterne-Hotel, das barrierefrei ist.
Was passiert mit den Geldern, die von Menschen mit Behinderung erwirtschaftet werden?
Es ist ein bisschen wie bei jeder Form der Sozialhilfe: Der Staat legt fest, dass jeder, der von ihm Sozialleistungen erhält, nur ein Mindestmaß an Wohlstand haben darf. Was daran nicht bis zu Ende gedacht ist: Menschen mit Behinderungen werden an ihrer Situation ein Leben lang nichts ändern können. Ich werde den Rest meines Lebens in einem Rollstuhl sitzen und mehrere Assistenzen haben. Jemand, der Hartz IV bezieht, hat ganz andere Optionen als ich, sofern er oder sie keine Behinderungen oder Einschränkungen hat. Es ist die Aufgabe unserer Gesellschaft, die Rahmenbedingungen so zu organisieren, dass jeder daran teilhaben kann. Heißt: Warum soll nicht jemand mit Behinderung Millionär werden können? Ich überlege mir natürlich schon, ob ich eine 40-Stunden-Woche fülle, wenn ich davon am Ende des Tages wenig Vorteile habe.
Was ist der Zweck einer Behindertenwerkstatt?
Man hatte in den 1970er-Jahren das erste Mal nach dem Krieg wieder mehr Menschen mit Behinderungen in Deutschland, für die man Strukturen schaffen musste. Aufgrund dessen sind institutionalisierte Behindertenwerkstätten entstanden, die bis heute nicht hinterfragt werden, obwohl sich das System seitdem kaum weiterentwickelt hat. Menschen, die als „nicht erwerbsfähig“ betitelt werden, arbeiten in diesen Werkstätten, obwohl viele von ihnen mit einer Assistenz auch andere Tätigkeiten machen könnten. Viele Unternehmen profitieren davon, weil in den Werkstätten oft preisgünstig produziert wird, u. a., weil sie vom Staat subventioniert werden. Der Staat schiebt das Problem von sich weg und fokussiert sich wenig auf Menschen mit Behinderung. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Menschen mit Behinderung bekommen in den Werkstätten ein monatliches Taschengeld von circa 130 Euro im bundesweiten Durchschnitt. Eine der Existenzgrundlagen für diese Werkstätten ist, laut Aussage des Staates, dass man Menschen mit Behinderung befähigen möchte, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Realität sieht jedoch anders, denn die Zahl jener, die anschließend auf den „normalen“ Arbeitsmarkt wechseln, liegt bundesweit bei einem Prozent. Ergo heißt das, dass 99 Prozent der Menschen, die in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, nie auf den „richtigen“ Arbeitsmarkt kommen, sondern für immer dort bleiben.
Würdest Du sagen, dass die Menschen in den Behindertenwerkstätten unglücklich sind?
Die Angst von vielen Menschen ist gerade groß, dass die Behindertenwerkstätten geschlossen werden. Ich glaube, das liegt aber vor allem daran, dass wenig Empowerment stattfindet und den Menschen nicht gezeigt wird, dass es bessere Alternativen gibt. Wenn dir ständig jemand sagt: Der Arbeitsmarkt ist zu hart für dich, dann glaubst du das auch irgendwann.
Je größer ein Betrieb ist, desto mehr ist er dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Man kann sich jedoch als Firma „freikaufen“. Ist das nicht paradox und was passiert mit diesen Geldern?
Diese Gelder kommen in einen Topf, der dazu da ist, Arbeitsassistenzen und andere Unterstützungen für Menschen mit Behinderung und deren Arbeitgeber zu bezahlen. Aber das Paradoxe daran ist, wenn man dieses System weiter befeuert und sich Betriebe von Menschen mit Behinderung freikaufen können, dann fördern sie damit ein nicht-inklusives System. Es ist auch spannend, dass viele Konzerne, die sich wenig für eine inklusive Arbeit interessiert haben, sich auf einmal damit schmücken wollen, weil es gerade ein omnipräsentes Thema ist.
Welche Erfahrungen hast Du mit der Gesetzesänderung zum Gesetz zur Teilhabe gemacht?
Das Bundesteilhabegesetz sollte der große Coup werden, hin zu mehr Inklusion. Doch eher das Gegenteil ist der Fall. Das Budget für Arbeit hat bislang kaum für mehr Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesorgt. Und auch die Situation mit Assistenz hat sich kaum verbessert. Viele Menschen wissen nichts über Möglichkeiten, mit Assistenz in der eigenen Wohnung leben zu können und werden in stationäre Wohnformen gedrängt. Assistenzleistungen sind nach wie vor nicht Einkommen- und Vermögensunabhängig usw. Einzig die ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen, die es bundesweit gibt und überwiegend von Menschen mit Behinderungen selbst betrieben werden, sind eine richtig gute Errungenschaft.
Kennst Du Modelle, fernab der Werkstätten, in denen Menschen mit Behinderungen inklusiv durch ihren Arbeitsalltag an der Gesellschaft teilnehmen?
In vielen Länder, wie in Skandinavien oder den USA, gibt es keine Behindertenwerkstätten mehr, sondern vielmehr integrative Gruppen in den Betrieben. Wir brauchen in Deutschland generell mehr wirkliche inklusive Arbeit innerhalb der Betriebe – für die Menschen mit Behinderung, aber eben auch für die Betriebe – mit dem Ziel, dass deren beider Realitäten zusammenwachsen, anstatt nebeneinander zu koexistieren. Mehr braucht es eigentlich nicht.
Woran scheitert dann Deiner Meinung nach Inklusion auf gesellschaftlicher Ebene?
Gerade dieses System mit den Behindertenwerkstätten ist für uns alle sehr bequem. Und klar, ist es für einen Betrieb einfacher, jemanden zu beschäftigen, der keine Behinderung hat, als einen Rollstuhlfahrer. Aber wir haben diese UN-Konvention nun mal unterschrieben, und dann müssen wir diese auch in die Tat umsetzen. Behindertenwerkstätten haben ja alle große Träger wie die Caritas, die Lebenshilfe etc. Und wenn deren Vorstandsvorsitzende im Bundestag sitzen, ist es doch nicht verwunderlich, dass sich da nichts ändert und an alten Strukturen festgehalten wird.
Sind Inklusionsbeauftragte in der Film- und Fernsehbranche sinnvoll?
Es ist ja schon in der Diskussion immer sinnvoll, wenn jemand präsent ist, der die Interessen für Menschen mit Behinderung vertritt. Am besten natürlich jemand, der auch selbst eine Behinderung hat. Wenn man da als Produktionsfirma Hilfe braucht, ist es am besten, einfach ins Gespräch zu kommen und zum Beispiel auch uns zu fragen, ob wir jemanden kennen oder empfehlen können.
www.sozialhelden.de | www.facebook.com/anne.gersiline
Telefon: | 0221 - 94 65 56 20 |
E-Mail: | info@casting-network.de |
Bürozeiten: | Mo-Fr: 10:00 - 18:00 Uhr |
© 2005-2024 Gesichter Gesucht & casting-network
Internetagentur - die profilschmiede
Datenschutzeinstellungen