Niko von Glasow (*1960 in Köln als Niko Brücher) ist Filmproduzent, Autor und Regisseur zahlreicher Spiel- und Dokumentarfilme. Er ist ein Contergan-Überlebender, wie er selbst gerne genannt werden möchte. Von Glasows Filmausbildung begann bei Rainer Werner Fassbinder als Praktikant. Später arbeitete er für Regisseure wie Georg Stefan Troller, Hellmuth Costard, Alexander Kluge, Peter Zadek, Jean-Jacques Annaud u. a. und war für Filmverleiher, Filmstudios und das Filmfest Hamburg tätig. Von Glasow studierte an der New York University Schauspielführung bei John Costopoulos und Regie bei Jack Garfein. An der Filmhochschule Łódź drehte er 1991 seinen ersten Kurzfilm „Hochzeitsgäste“. Dieser erhielt mehrere Preise: den Grand Prix Lino Ventura, den Preis der deutschen Filmkritik, den Dresdner Filmpreis und den Jugendfilmpreis der Stadt Oberhausen. Für den von ihm produzierten Film „Maries Lied: Ich war, ich weiß nicht wo“ (1994) schrieb er das Drehbuch und führte Regie. Von 2001 bis 2004 dauerte die Inszenierung und Produktion seines Films „Edelweißpiraten“ mit Iwan Stebunow, Bela B., Jochen Nickel und Anna Thalbach. Alle Filme wurden mit verschiedenen Preisen geehrt. 2007 strahlte der WDR in der Reihe „Menschen hautnah“ seinen autobiographischen Dokumentarfilm „Schau mich an“ aus, in dem von Glasow sein Leben als Contergangeschädigter aufarbeitet. Contergan ist auch Thema seines Dokumentarfilmes (und Buches) „NoBody’s Perfect“. Ausgangspunkt dieses Projektes war ein Kalender mit Aktaufnahmen Contergangeschädigter. Für den Film erhielt Niko von Glasow 2009 den Deutschen Filmpreis als „Bester Dokumentarfilm“. Von Glasow lebt in in der Nähe von Florenz. Er ist Mitglied der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA) und der Europäischen Filmakademie. Als Dozent für Drehbuch ist er u. a. an der University of California, Los Angeles (UCLA), in Bangkok, Tibet und am Wederzijds-Theater in Amsterdam tätig. Außerdem gründete er die Niko von Glasow Foundation, die 400 nordvietnamesischen Kindern eine Operation ermöglicht und weiteren 700 Familien mit behinderten Kindern mit Essen versorgt.
Wie bist Du zum Film gekommen?
Ich bin ausgesprochen untalentiert, kann nicht mal einen Dreivierteltakt klopfen, kann nicht besonders gut tanzen oder schreiben. Aber ich kann unglaublich gut Leute rumbossen – also ihnen sagen, was sie tun sollen. Deshalb bin ich Regisseur geworden. Meine ersten Filme habe ich im Alter von sieben Jahren entwickelt, weil ich eben nichts anderes konnte.
Wie sah Dein Weg bis heute konkret aus?
Ich habe als Praktikant bei Rainer Werner Fassbinder angefangen. Der hatte mich in den Studios der Bavaria herumlaufen sehen und direkt geschrien: „Der da ist zuständig für die Bierkästen.“ Das konnte ich trotz meiner Conterganschädigung. Generell hat er sehr viel geschrien, und er ist ein gutes Beispiel dafür, dass die deutsche Filmindustrie sehr behindertenfeindlich war und ist – aber eben nicht offensichtlich. Es würde keiner auf die Idee kommen, öffentlich auszusprechen, dass er Behinderte nicht mag. Danach war ich zehn Jahre unbezahlter Regieassistent und Kaffeemacher und habe mich im Anschluss bei der Berliner Filmhochschule beworben, wo ich beim Bewerbungsverfahren in die letzte Runde gekommen bin. Ich kann mich sehr gut an eine Mitbewerberin erinnern, die nicht wusste, wie man eine Super-Acht Kamera hält, denn sie guckte ins Objektiv. Sie ist schließlich genommen worden, ich nicht. Mit der Begründung, ich könnte als Contergangeschädigter den Boom beim Tonangeln nicht richtig halten. Ähnliche Erfahrungen habe ich in München an der Filmhochschule gesammelt. Dann wurde ich aber an der New York University aufgenommen, wo ich Schauspielführung bei John Costopoulos und Regie bei Jack Garfein studierte. Anschließend bin ich auf die Filmhochschule Łódź gegangen, wo ich meinen ersten Kurzfilm „Hochzeitsgäste“ drehte. Es gab, meiner Meinung nach, einen simplen Grund, warum ich angenommen worden bin: Das Studium hat Geld gekostet. Das ging im Grunde dann auch so weiter: Alle meine sechs Filme habe ich selbst produziert und finanziert. Es kommt vor, dass ich mit Rundfunkchefs essen gehe, und die mich fragen: „Wir haben da ein Projekt mit einem behinderten Kind in der Hauptrolle. Kennst du einen Regisseur, der das machen könnte?“ Die kommen gar nicht auf die Idee, dass ich das machen könnte. Man kann vielleicht eine Parallele zu gutaussenden Frauen ziehen, denen man oft auch nicht zutraut, dass sie talentiert und ehrgeizig sind.
Ist das auch einer der Gründe, warum Du nicht mehr in Deutschland lebst?
Nein. Ich bin nach dem Abitur ausgezogen und habe mittlerweile 54 Länder besucht. In einigen habe ich auch für längere Zeit gelebt. Ich bin immer gerne nach Deutschland zurückgekommen, aber für mich ist meine Heimat Europa.
Wie gehst Du mit Deiner Behinderung um?
Bis ich 35 Jahre alt war, habe ich meine Behinderung verdrängt und mir eingeredet: Ich bin doch ganz normal. Im Laufe der Zeit musste ich allerdings feststellen, dass ich nicht normal bin, und dass die Behinderung natürlich etwas mit mir macht. Selbstverständlich wird man von der Gesellschaft und vor allem von Mädchen anders gesehen: Jeder blonde Dummkopf hat zu Schulzeiten ein Mädchen abgekommen nur ich nicht. Die Integration von Menschen mit Behinderung ist zunächst ein ganz persönlicher Prozess, denn damit mich die anderen so akzeptieren, wie ich bin, muss ich mich zunächst selbst akzeptieren und lieben lernen. Im Grunde müssen wir Menschen lernen, dass wir alle nicht fehlerfrei sind und der Tod jeden einzelnen von uns heimsucht. Menschen mit Behinderung spiegeln uns diese Erkenntnis.
Wie wird auf Deine Behinderung reagiert?
Am Händeschütteln erkennt man ganz gut, was Menschen für eine Selbstsicherheit haben – nicht nur mit mir und meinem Aussehen, sondern auch mit sich selbst. Wenn ich bei einer Begegnung eine Unsicherheit spüre, versuche ich das meist mit Humor zu umgehen.
Wie definierst Du Behinderung?
Ich glaube, dass alle Menschen eine Behinderung haben, weil alle Menschen etwas haben, dass sie hemmt, frei zu sein. Die seelische Freiheit definiert den Grad der Behinderung.
Wie möchtest Du in Bezug auf Deine Behinderung bezeichnet werden?
Am liebsten wäre mir Contergan-Überlebender – Contergangeschädigt bin ich auch, behindert bin ich auch, eine Glatze habe ich auch und einen Bierbauch habe ich auch.
Es ging Dir primär nicht darum, in Deiner Arbeit das Thema Behinderung zu thematisieren – nun beschäftigst Du Dich seit einigen Jahren doch damit. In Kölner Stollwerk hast Du 2011 das Stück „Alles wird gut“ inszeniert, das sich mit Behinderung beschäftigt. Wie kam es dazu?
Ich wollte nie einen Dokumentarfilm drehen, habe aber mit „NoBody’s Perfect“ im Auftrag des WDR dann doch einen gemacht habe. Anschließend habe ich drei Kinofilme zum Thema „Behinderung“ produziert, und dann kam ich aus der Kiste nicht mehr raus – ich wurde zum Papst der Behinderung für die Branche. In „NoBody’s Perfect“ habe ich mich meiner größten Angst gestellt: dem Nacktsein. Ich traute mich nicht einmal mit einer Badehose an den Strand, geschweige denn, dass ich mich irgendwo nackt zeigte. Später haben wir mit „NoBody’s Perfect“ den deutschen Filmpreis gewonnen. Durch die Aufmerksamkeit, und den damit einhergehenden Kontakt zu deutschen Politiker*innen u. a. auch Frau Merkel, haben wir insgesamt 2,7 Milliarden Euro für contergangeschädigte Menschen sammeln können. Dann wurde ich vom Theaterfestival „Sommerblut“ in Köln angesprochen und gefragt, ob ich zum zehnjährigen Jubiläum ein Theaterstück schreiben und inszenieren würde. Da meine Gage so gering war, habe ich aus dem Stück auch noch einen Film gemacht. Ich habe ein großes Casting initiiert mit sichtbar behinderten Schauspieler*innen und nicht behinderten Schauspieler*innen.
Die gängigen Schauspielschulen bilden keine Menschen mit Behinderung aus?
Wie hast Du Deine Darsteller*innen gefunden?
Profi sein, heißt nicht, dass du eine Schauspielschule besucht haben musst, sondern, dass du Schauspielerfahrung hast. Profis blühen auf der Bühne auf. Ich habe meine Schauspieler*innen immer nach Qualität ausgesucht. Es war spannend zu beobachten, dass die Schauspieler*innen mit Behinderungen eine deutlich stärkere Bühnenpräsenz hatten als die Schauspieler*innen ohne sichtbare Behinderung. Das habe ich thematisiert und während des Castingprozesses angesprochen: Die nicht behinderten Schauspieler*innen müssten sich deutlich mehr anstrengen, wenn sie gegen die anderen nicht abstinken wollten. Daraufhin wurde mir vorgeworfen, dass ich Schauspieler*innen mit Behinderung bevorzugen würde, was natürlich nicht stimmte: Die waren einfach besser.
Was ist die wichtigste Erkenntnis aus dieser Theaterarbeit?
Ich hatte mehr Spaß als beim Filme machen, weil die Theaterarbeit so direkt und nah am Menschen ist. Die Arbeit an einem Film ist oft weit weg von der Realität. Anschließend habe ich eine Filmhochschule in Tibet gegründet und zwei „normale“ Schulen in Vietnam. Außerdem habe ich die Niko von Glasow Foundation, jedes Jahr 400 nordvietnamesischen behinderten Kindern zu einer Operation verhilft und weiteren etwa 600 Kindern und ihren Familien Essen besorgt, ins Leben gerufen. Unsere Arbeit kann man sich gerne auf https://www.nikovonglasow.org/ angucken.
Wie würdest Du die Essenz Deiner ganzen Arbeit selbst bezeichnen?
Die Juden würden sagen: „Er ist ein Mensch.“
Was bedeutet für Dich Inklusion im Film und Fernsehbereich?
Die Frage ist doch, warum sollte man Menschen mit Behinderung engagieren? Es gibt vordergründig gar keinen Grund, aber es gibt ein Bedürfnis danach. Der Tritt wäre eine Quote in der Ausbildung, die dafür sorgt, dass Menschen mit Behinderung an Ausbildungsstätten aufgenommen werden. Menschen mit Behinderung sind Extrem-Menschen: Sie können extrem liebevoll, extrem begabt, aber auch extrem anstrengend sein. Und wenn wir genau hingucken, findet man eben extrem begabte Menschen mit Behinderung. Außerdem verändern Menschen mit Behinderung das Betriebsklima. Natürlich sind sie in gewissen Punkten auf Hilfe angewiesen, aber es tut anderen gut, zu helfen – mehr sogar: Es macht glücklich. Das würde auch der grauen, kalten, deutschen Filmlandschaft guttun.
Denkst Du, ein Regelwerk für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung wäre hilfreich?
Natürlich. Man braucht in der Arbeitswelt Regeln. Ohne Regeln, gerade in der Männerwelt, rückt eine gewisse Brutalität in den Vordergrund. Natürlich muss man diese Regeln immer wieder hinterfragen. Es gibt keine Inklusion in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft. Ich wurde zum Beispiel noch nie von einer deutschen Schauspiel- oder Filmschule als Professor oder Dozent eingeladen, im Gegensatz zu den USA oder im asiatischen Raum. Das macht mich wütend. Ich spreche vier Sprachen, habe den Deutschen Filmpreis und x andere Preise gewonnen und meine Filme waren immer unter dem kalkulierten Budget. Da frage ich mich: Wenn sie mich nicht einladen, welchen anderen Menschen mit Behinderung laden sie denn ein? Wir müssen mehr qualitativ gute Filme produzieren, in denen auch Menschen mit Behinderung vorkommen. In Holland gibt es zum Beispiel eine Quote der Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im Fernsehen. Damit wird die Behindertenfeindlichkeit ein Stück verringert, weil man Behinderte regelmäßig sieht. Die Realität der Freundlichkeit gegenüber Behinderten in der realen Welt ist in der Medienwelt noch lange nicht angekommen.
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