Long Tail. Ein Fachgespräch mit Dr. Gernot Gehrke, Geschäftsführer der LfM Nova GmbH und damit verantwortlich für das medienforum.nrw.
In welchen Zusammenhang haben Sie zum ersten Mal von der „Long Tail" Theorie gehört?
Das kann ich nicht mehr genau sagen. Ausführlicher beschäftigt habe ich mich damit im Rahmen meiner Arbeit für das Europäische Zentrum für Medienkompetenz. Dort haben wir uns 2006 mit den Entwicklungen rund um den Megatrend Web 2.0 auseinandergesetzt und dabei auch das Prinzip des Long Tail gestreift. Im vergangenen Jahr habe ich dann das Buch von Chris Anderson gelesen.
Seit wann gibt es das medienforum.nrw und was gehört zu ihrem Aufgabenbereich als Geschäftsführer?
Das medienforum.nrw ist eine Veranstaltung mit großer Tradition. Wir erleben in diesem Jahr die 20. Auflage des Branchenkongresses, den viele als den wichtigsten in Deutschland bezeichnen. Zum 19. Mal findet das medienforum.nrw in Köln statt. Als Geschäftsführer der LfM Nova GmbH verantworte ich alle Unternehmensbereiche und damit auch die gesamte Ausgestaltung der Veranstaltung, die sich mit dem Kongress in der Rheinparkhalle, dem Festival Großes Fernsehen und dem medienfest.nrw ja aus drei Säulen konstituiert. Am bekanntesten, weil traditionsreichsten, ist dabei sicher die Kongressveranstaltung, die an drei Tagen vom 9. - 11. Juni stattfindet. Allerdings hat das medienfest.nrw, der Event zur Aus- und Weiterbildung im Medienbereich, im vergangenen Jahr auf Anhieb rund 15.000 junge Menschen bei seiner Premiere angezogen. Und das Festival Großes Fernsehen erlebte mit rund 3.000 Besuchern im Cinedom, dem größten Wohnzimmer Kölns, ebenfalls eine sehr erfolgreiche zweite Ausgabe nach dem Start in 2006.
Stimmen Sie Chris Andersons Einschätzung zu, dass der künftige Medienmarkt hauptsächlich nur noch durch große Hits und diverse Nischenprodukte bestimmt wird, also das „komplette Mittelfeld" wegbricht?
Ich glaube, dass valide Prognosen in diesem Geschäft schwierig sind - besonders, wenn sie versuchen, um Exklusivität zu streiten. Die Erfahrung lehrt doch, dass die Dinge meist sehr viel komplizierter sind. Für die Konstruktion des Hype ist das nicht so schön, weil einfache Sachverhalte schneller und nachhaltiger zu kommunizieren sind als differenzierte. Trotzdem glaube ich, dass es sinnvoller ist, die Komplexität anzuerkennen. Nehmen wir etwa das Fernsehen. Nicht das komplette Mittelfeld wird wegbrechen - schon gar nicht heute, morgen oder übermorgen. Aber es ergeben sich Verschiebungen. Die Marktanteile der großen Sendergruppen im Fernsehen beispielsweise werden schrumpfen, der große Markt der Kleinen in seiner Summe hinzugewinnen. Eine ausschließliche Orientierung auf den Massenmarkt findet sich aber ohnehin schon nicht mehr, auch nicht in den großen Sendergruppen. Die haben ihre Angebote längst ausdifferenziert - auf verschiedenen Plattformen mit mehreren und spezifisch adressierenden Kanälen. Gerhard Zeiler, der CEO der RTL Group, sagt beispielsweise: Lieber fragmentiere ich mich selbst, als dass ich selbst fragmentiert werde. Letztlich bedeutet dies nichts anderes, als das Prinzip des Long Tail zu akzeptieren. Nur - um beim Beispiel RTL Group in Deutschland zu bleiben - VOX und RTL 2 sind ja weniger Nischenprodukte, sondern viel mehr Mittelfeld. Hinzu kommt gerade beim Fernsehen, dass die vollständige Digitalisierung der Angebote Voraussetzung dafür ist, dass die Entwicklung hier in Richtung der Voraussagen der Long Tail-Theorie weiter geht.
Welche Panels beschäftigen sich mit dem Thema „Long-Tail" auf dem medienforum.nrw?
Wir haben in diesem Jahr beim medienforum.nrw den Blogger Umair Haque aus London zu Gast. Er sieht sich selbst als Experte für „next-generation-strategies", hat sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Medienmarktes befasst und die Konzentration auf das Blockbuster-Denken als nicht zukunftsfähig gesehen. Seine Vision des Medienmarktes ist die von kleineren Einheiten, die von den Nutzenden zusammengestellt, gemixt, verändert, gestaltet werden können und wollen. Beim medienforum.nrw erklärt er uns seine Vorstellungen von „The New Economics of Media". Wir haben ihn gebeten, uns zu sagen, was jenseits des Long Tail liegt. Dieses Panel wird am Dienstag, 10. Juni um 11.30 Uhr stattfinden und das Thema Long Tail sehr explizit aufgreifen. In anderen Bereichen spielt es implizit immer wieder eine große Rolle. Wenn wir beispielsweise an Medienregulierung oder Medienpolitik denken, haben wir in der Regel meist noch etwas Überschaubares, Endliches oder Zählbares vor Augen. Das wird sich ändern müssen und entsprechend müssen sich die Instrumente von Politik und Regulierung verändern, was sie im medienpolitischen Bereich mit der Hinwendung zur Moderation und Begleitung von Prozessen oder im regulatorischen Feld mit der Stärkung von regulierter Selbstregulierung auch schon tun.
„Vom Wert der Medien" ist das Thema des diesjährigen medienforums.nrw. Ein Schwerpunkt ist auch, dass Sie sich mit „klassischen" Verlagen beschäftigen. Welchen Wandel sehen Sie hier aufgrund der Medienentwicklung (Stichwort: online) in den nächsten Jahren auf diese Häuser zukommen?
Beim medienforum.nrw ist Horst Pirker von der Styria Medien AG aus Österreich zu Gast. Er sieht die Zukunft seines Verlagshauses als Content Company und betrachtet das Generieren, Auswählen, Bewerten, Gestalten und Interpretieren von Inhalten für verschiedenste Medienprodukte als Kerngeschäft - in Form von Texten, Grafiken, Bildern und Tönen. Das klingt nach Unabhängigkeit vom Distributionsweg, das Wort Zeitung taucht hier gar nicht mehr auf, und nach einer sehr ehrgeizigen Zukunftsvision für dieses traditionsreiche, 1869 als Zeitungshaus gegründete, Unternehmen. Ich glaube aber, dass dies der richtige Weg ist, den die Verlagshäuser, die sich heute ja auch schon als ausdifferenzierte Medienhäuser begreifen, gehen müssen. Clemens Bauer, der Vorsitzende des Zeitungsverlegerverbandes Nordrhein-Westfalen e.V., sagt: Die medientechnische Entwicklung zwingt Zeitungshäuser dazu, zu Medienhäusern zu werden.
Wo denken Sie werden künftig Probleme durch diese Entwicklung entstehen oder sind diese schon entstanden?
Probleme ergeben sich dort, wo die Geschwindigkeit des Wandels nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt halten kann - sei es, weil die Institutionen und Unternehmen selbst zu einem schnellen Wandel nicht in der Lage sind, oder weil beispielsweise rechtliche Rahmenbedingungen sie daran hindern. Hier braucht es - so oder so - Unterstützung, damit private Unternehmen ihre Entwicklungsmöglichkeiten nutzen können und gesellschaftliche Zielwerte wie beispielsweise Meinungsvielfalt dabei nicht in Gefahr geraten. Das medienforum.nrw ist ein guter Platz, um solche Dialoge um eine Entwicklung, die vielen nutzt, zu führen und dabei nach dem zu suchen, was für Wirtschaft und Gesellschaft wertvoll ist.
Wie denken Sie, werden sich höherwertige Produktionen künftig finanzieren, wenn der große Massenmarkt in einzelne kleine Segmente auseinanderdriftet?
Um beim Fernsehen zu bleiben: Sie werden sich nur noch dort privat finanzieren lassen, wo eben auch ein entsprechender Ertrag erwartet werden kann und später auch erzielt wird - durch Reichweitenmaximierung, Mehrfachverwertung, Internationalisierung - eben die gesamte Wertschöpfungskette, die ja vielfältiger geworden ist. Mit Gebühren finanziert - also öffentlich-rechtlich - werden sie weiterhin entstehen können, wobei jedoch auch hier der Druck zunimmt, weil die verschiedenen Betätigungsfelder und damit die Aufgaben trotz guter Ausstattung mit Gebühren, schneller wachsen als das zur Verfügung stehende Budget.
Neben den bisherigen Marktteilnehmern (professionellen Anbietern von medialen Inhalten) bietet das Web erstmals auch Amateuren (Blogger, Hobbyjournalisten und -filmern) die Möglichkeit ihre Inhalte großflächig zu vertreiben. Erkennen Sie diese neuen Marktteilnehmer als Konkurrenten an oder glauben Sie, dass diese von Amateuren entwickelten Formate das bisherige Medienangebot eher nur, wenn überhaupt, ergänzen können?
Für mich sind sie keine Konkurrenz, und ich freue mich darüber, dass das auch als „Mitmach-Web" bezeichnete Web 2.0 tatsächlich bei vielen ankommt und die ihre Chancen nutzen, unabhängig von etablierten und eingeführten Distributionswegen an den Gatekeepern vorbei tätig zu sein. Mit Robert Basic ist Deutschlands meistzitierter Blogger zu Gast beim medienforum.nrw. Wobei der natürlich längst kein Amateur mehr ist, wahrscheinlich auch nie in dem Sinne war, wie wir den Begriff gebrauchen. Es kommt also nicht auf den Distributionsweg an - nicht alles, was bloggt ist sofort von überragender Qualität, nicht alles, was auf bekannten, traditionellen Wegen daherkommt, immer schlimm und schlecht. Auch das ist eine Folge von Web 2.0 und letztlich auch des Long Tail: Das Angebot ist bunt, wir können wählen, bewerten, empfehlen, weitersagen und so ein Nischenprodukt zum Blockbuster machen.
Welche Chancen und Risiken bietet der „Long Tail" dem Medienmarkt?
Die wunderbare Chance ist, dass etwas, was in traditionellen Märkten, nie zur Kenntnis genommen würde, plötzlich ins Bewusstsein gelangt. Beim Blick auf manche Inhalte, ist dies für mich auch das größte Risiko. Das Problem mancher nutzergenerierter Inhalte ist eben, dass sie nutzergeneriert sind.
Wie wird sich die Produktion der sog. Nischenproduktionen künftig finanzieren?
Zum Beispiel in Zusammenarbeit mit den Nutzenden. Wer sagt denn, dass jede CD von einem Label vertrieben werden muss. Songs können im Netz sein, abgerufen werden oder nicht und dann bezahlt werden oder nicht - weil die Band es ihren Fans freistellt, ob sie zahlen und wenn ja, wie viel sie zahlen. Auch für Fernsehprodukte ist das denkbar. Wahrscheinlich ist aber auch, dass die Wanderung am Long Tail aufwärts - bis zum Blockbuster, was ja durchaus denkbar ist - auch eine Veränderung der Finanzierung und Vermarktung der vormaligen Nischenproduktionen mit sich bringen wird.
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Tina Thiele studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Kulturelles Management in Köln. Sie ist Chefredakteurin von "casting-network. Das Branchenportal". Mehr zu ihrer Person finden sie in der unter der Rubrik: Über uns.
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