Der Verein Sommerblut Kulturfestival unter der Leitung von Rolf Emmerich betreibt mit Herzblut seit nunmehr 20 Jahren „Sommerblut“, das „Festival der Multipolarkultur“. Dieses versteht sich als inklusive Veranstaltung, die unterschiedliche gesellschaftliche, soziale und politische Standpunkte und Identitäten miteinander verbindet. Der Inklusionsbegriff wird hierbei bewusst weit gefasst: Es geht um körperliche und kognitive Merkmale, Lebensformen, Wertesysteme, Traditionen, Glaubensrichtungen – all das, was die Identität eines jeden Menschen und den täglichen Diskurs in unserer Gesellschaft bestimmt. Das Festival lädt ein zu einem Perspektivwechsel, in Richtung einer grenzüberschreitenden, mutigen Kunst und Kultur.
Die erfolgreichen Projekte der letzten Jahre haben bewiesen, wie spannend, anregend und wertvoll derart verstandene Kultur jenseits des Mainstream sein kann. Viele der Projekte haben weitreichende Impulse in die Stadt Köln, aber auch darüber hinaus in die gesamte Republik und inzwischen auch ins Ausland getragen. Seit seiner Gründung ist Jürgen Roters, ehemaliger Oberbürger- meister der Stadt Köln, Schirmherr des Sommerblut Kulturfestival e.V.
Wir sprachen mit Rolf Emmerich, der selbst Schauspieler war, über gelebte Inklusion, Diversität, Gagenproblematiken und natürlich über seine Projekte.
20 Jahre „Sommerblut“, herzlichen Glückwunsch!
Die Bandbreite Eurer Protagonisten reicht von JVA-Häftlingen über Demenzerkrankte, Transmenschen, Flüchtlinge, Obdachlose bis hin zu Menschen aus sozialen Brennpunkten. Wo ist der rote Faden?
Unser Pressemann hat mal gesagt: „,Sommerblut‘ bringt den Rand in die Mitte und die Mitte an den Rand.“ Das finde ich sehr treffend. Aber wir haben auch Hochkultur, zum Beispiel jetzt „Tank“ als internationales Gastspiel, eine der anerkanntesten Tanzproduktionen aus Österreich von Doris Uhlich. Wir haben nicht nur die Expert*innen der Lebenswelten in den Projekten, sondern verbinden sogenannte Expertenkultur mit sogenannter Hochkultur. Der rote Faden ist immer der Themenschwerpunkt – dieses Jahr „Natur“, nächstes Jahr „Aufbruch“, letztes Jahr „Zukunft“. Wenn es thematisch passt, subsummieren wir aus den verschiedenen Genres Tanz, Theater, Bildende Kunst die entsprechenden Projekte. Gerade sind wir in der Phase der Kuratierung und überlegen, was wir fürs nächste Festival machen können.
Wie ist die Idee zu einem Festival entstanden?
Es war bereits mein Kindheitstraum, ein Festival zu machen, aber ich war zunächst persönlich nicht so weit, finanzielle Risiken einzugehen. Viele Familienthemen haben dazu geführt, dass ich lange gebraucht habe, das zu riskieren. Ich war Mitte 40, und mein damaliger Mentor sagte: „Mensch Rolf, wenn du das bis 50 nicht machst, dann machst du es nicht mehr.“ Daraufhin bin dann durchgestartet. Ich weiß noch, wie ich irgendwann alles fallen gelassen habe und abends bei einem Gläschen Wein dachte: Oh Gott, jetzt hast du alles aufgegeben. Jetzt bist du hundertprozentig selbstständig. Aber ich hatte so viel Power und so viel Kraft. 2001 inszenierte ich mit Frank Müller am Theaterhaus in der Klarastraße ein Theaterstück von Terrence McNally, „Corpus Christi“, über die Lebensgeschichte von Jesus, aber Jesus war homosexuell. Da war ein riesiger Aufstand. Die ganze Klarastraße war voll mit Christen mit Kerzen, und der WDR war mit einem Sendewagen im Hof des Theaters und hat live vor der Premiere übertragen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Und da dachte ich: Ja, das kannst du. Nicht, dass ich etwas gegen die Kirche machen wollte, aber ich mochte es, auf diese Weise zu provozieren. Jesus hätte auch schwul oder behindert sein können – oder trans – viele Schamanen waren Transmenschen.
Wann entstand aus der Idee dann das „Sommerblut-Festival“?
Ich habe zwei Jahre lang den CSD organisiert und habe für den Kölner Lesben- und Schwulentag e.V. (KLuST) 2002 und 2003 ein kleines Kulturfestival gemacht und gemerkt, das wird gut angenommen. Aber ein rein schwul-lesbisches Kulturfestival war mir zu eng. Ich habe es dann abgekoppelt als „Sommerblut-Festival“. Jürgen Roters war mein erster Moderator der Eröffnung 2002. Ich hatte keinen Cent. Alles, was von kommerziellen Projekten übrig blieb, habe ich in neue inklusive Projekte gesteckt. 2004 haben wir unsere erste Förderung von 3.000 Euro bekommen, und dann ist es einfach immer weitergegangen. 2007 habe ich Gerda König, die Rollstuhl-Choreografin, zu dem Projekt „Sex ID – Sexualität und Behinderung“ überredet. Die Aktion Mensch hat die Förderung nicht bewilligen wollen. Wir sind vier Runden gegangen, bis wir das durchhatten. Im Kuratorium saß eine Frau vom ZDF, die hat geholfen, das durchzuboxen. Gerda König hat mit dem Stück den Tanztheaterpreis 2007 gewonnen. Da habe ich gemerkt: Ich will das, ich kann das und bin mit verschiedenen Themen immer weiter gegangen.
Wie findet Ihr Eure Künstler*innen?
Bleiben wir mal bei dem Beispiel des Projektes, was gerade ansteht: „Alles, aber anders“ zum Thema Corona. Die Künstler*innen sollen im Fokus Menschen mit Behinderung/Benachteiligung sein. Wir schreiben ganz offiziell ein Casting auf unserer Website, in den lokalen Medien und auf Social Media aus. Natürlich haben wir auch eine Community und schicken die Ausschreibung rund mit der Bitte, sie zu teilen. Oft recherchieren die Regisseur*innen oder Choreograf*innen selbst, wen sie interessant finden. Ich habe zum Beispiel kürzlich einen Artikel über einen Krankenpfleger gelesen, der sich sehr politisch für das Thema „Situation in Krankenhäusern unter Corona“ engagiert hat. Den habe ich auf meiner Liste. Ich könnte mir vorstellen, das wäre ein interessanter Mensch für unser Projekt – die Einsicht in Krankenhaus und Intensivstation, der Umgang mit Tod und Leben, aber auch die Sicht auf Krankenpflege bzw. Pflege als solche, ist ein ganz wichtiges Thema. Es ist immer eine Mischung.
Was ist Dein Hauptanliegen?
Mein Hauptmotiv ist Liebe. Liebe zu Menschen ist der absolute Fokus. Auch wenn ich mich manchmal als Produzent aufrege – ich liebe jeden, und ich liebe die Ergebnisse. Ich erinnere mich an eine wunderbare Premiere auf dem Neumarkt mit suchterfahrenen Menschen, die am Ende alle auf der Bühne standen und ein finales Lied gesungen haben – das ist für mich Erfüllung. Wenn ich zu Leuten vom Kulturamt oder Ministerium fahre, bin ich natürlich ganz vorne, aber bei den Projekten bin ich nicht auf der Bühne, sondern im Hintergrund.
Welche Hilfe erhält ein an künstlerischer Tätigkeit interessierter Mensch mit einer Behinderung vonseiten des Staates, von Verbänden oder Institutionen?
Wir wissen ja alle, was der Staat für diese Menschen leisten muss – Rente oder Hartz IV. Was er nicht leistet, ist, dass sie ausreichend ausgebildet werden – ein großes Thema ja auch für uns als Filmschaffende oder Theater- und Performance-Leute. Und wir haben immer noch viel zu wenig ausgebildete Künstler*innen mit Behinderung. Nico Randel (Downsyndrom) ist ein gutes Beispiel. Der ist ein Naturtalent als Schauspieler. Hier müssen sich die Hochschulen und Schauspielschulen öffnen. Die Quote ist auch ein Thema. Ich bin ein Quotenbefürworter für Menschen mit Behinderung in der Kultur. Ich bin auch für die Frauenquote, weil ich lange im Betriebsrat war und gemerkt habe, bestimmte Dinge verändern sich nur so.
Ein Betrieb kann sich durch eine Ausgleichsabgabe freikaufen, wenn er einen Behinderten nicht einstellt. Ist das nicht ein Netz mit so vielen Löchern, dass es längst überfällig ist, da auch mal drauf hinzuweisen?
Ja, aber gleichzeitig finde ich es gut und kenne das auch aus unserer Arbeit. Jemanden nur einzustellen, weil er/sie behindert ist – da haben beide Seiten nichts von. Es muss auch die Qualifikation, die Arbeit und Fähigkeit da sein. Die Fähigkeit kann aber auch erlernt werden, die kann man entwickeln – das kennen wir aus unseren Projekten zu Genüge. Aber ich bin ganz bei Dir, viele kaufen sich aus Bequemlichkeit frei, denn Integration kostet Kraft. Wir hatten jetzt zwei russische Freiwillige, die bei uns mitgearbeitet haben und arbeiten jetzt mit einer Agentur, die Flüchtlinge aus Afrika holt. Natürlich ist das eine Herausforderung, aber wenn wir uns als „Festival der Multipolarkultur“ bezeichnen und solche Wege nicht gehen – ja wer denn sonst? Und so sehe ich das auch mit Menschen mit Behinderung oder sozialer Benachteiligung. Man wird auch enttäuscht, aber man wird oft sehr, sehr stark positiv begeistert.
Du kennst auch die politische Ebene. Wer sollte hier angesprochen werden?
Für die Sache spreche ich jeden an. Ich habe Frank Walter Steinmeier schon einmal als Schirmherr für unser Projekt zur Organspende angefragt, weil er seiner Frau eine Niere gespendet hat. Er hat aber abgesagt, weil zu weit weg von Berlin und zu viele Aufgaben, aber ein ganz netter Mensch. Auch Armin Laschet habe angeschrieben und habe ihm, zusammen mit den Leuten vom „Wandelwerk“, einem Künstlerkollektiv in Ehrenfeld in einer leerstehenden Autohalle, eine Wahlkampfveranstaltung „Kultur und Corona“ angeboten haben. Der passte aber nicht, und es kam eine nette Absage. Mit Henriette Reker (Oberbürgermeisterin von Köln) habe ich in der Flüchtlingskrise viele Projekte gemacht. Wir standen immer in direktem Kontakt über ihre private Handynummer, und ich konnte sie anrufen, wenn ich bei der Durchführung eines Projektes auf Widerstände oder Probleme gestoßen bin. Wir haben ganz viele Sachen möglich gemacht. Ich bin nicht promigeil, aber für die Sache kämpfe ich. Henriette Reker konnte im Oktober nicht als Schirmherrin für das „Festival der Religionen“ zur Verfügung stehen, daher habe ich sie sofort um eine Vertretung gebeten, denn wir brauchen hier eine*n Repräsentant*in der Stadt. Für die Sache bin ich sehr aktiv. Aber auf Empfänge gehen, also sehen und gesehen werden, habe ich null Bock – das ist mir zu langweilig.
Wie setzt sich Euer Team zusammen? Wer wird von Euch eingebunden?
Wir haben ein inklusives Team. Im Zuge der aktuellen Umgestaltung unserer Website haben wir unser Team erweitert und Menschen mit Lernbehinderung, einen Gehörlosen und einen Blinden ins Team geholt. Das ist natürlich für die Grafiker*innen und Webmaster*innen eine Herausforderung, aber nur so verändert sich was. Sonst ändern wir als Sehende etwas, und wenn dann die Website fertig ist, kommt die Rückmeldung von den Blinden: „Das funktioniert ja gar nicht, das kann ich mir nicht anhören.“ Dass die Behinderten selbst beteiligt sind, muss bei jedem Meeting mit auf die Agenda, und es muss auch protokolliert werden, was dabei rausgekommen ist. Wichtig ist hier auch der Austausch mit den Theatern, denn irgendwann kommt vielleicht die Frage: „Ihr arbeitet doch mit Audiodeskriptionen und Gebärdendolmetscher*innen, wir haben gerade ein neues Stück und würden das gerne mal versuchen.“ Dann stelle ich den Kontakt her und schicke die Audiodeskriptionen und die Dolmetscher*innen – das ist Pionierarbeit. Während der Pandemie in 2020 hat die freie Szene Köln das „Kulturnetz Köln“ gegründet. Hier sind alle Genres der freien Szene, Musiktheater, Neuer Circus, Tanz, Bildende Kunst und Sektion Sonstige in einem Verein. Und wir haben durchgesetzt, dass es dort eine Diversitätsbeauftragte gibt.
Wie gestaltet sich die Arbeit der Diversitätsbeauftragten?
Wenn jemand zum Beispiel ein Theaterstück, ein Musikfestival oder eine Ausstellung plant, ist unsere Diversitätsbeauftragte mit dabei und fragt nach: „Hallo, denkt ihr das Thema Diversität auch mit? Wir haben Möglichkeiten und Kontakte.“ Sie hat die Aufgabe, auf das Thema Diversität hinzuweisen. Wir fangen damit erst gerade an. Und schon ging’s los: Als Diversitäts- beauftragte sollte sie erst kein Stimmrecht im Vorstand des Kulturnetzes Köln bekommen. Wir haben uns eingesetzt, jetzt ist sie Vorstandsmitglied mit Stimmrecht. Das sind so kleine Sachen, aber die begegnen einem immer wieder.
Bei Euch sind also alle auf Augenhöhe?
Ja, das ist das Wichtigste. Unsere Diversitätsbeauftragte ist selbst körperbehindert. Ein Vorstandsmitglied von „Sommerblut“ sitzt im Rollstuhl, Arne ist als Blinder im Leitungsteam und verantwortlich für den Blog. Wir sind offen. Wir haben jetzt eine*n Festivalkoordinator*in ausgeschrieben und eine neue Formulierung angewendet: „PoC, Migrationshintergrund, Flüchtlings- erfahrung, jüdisch, christlich“ – solche Bewerbungen sind ausdrücklich erwünscht. Das haben wir sonst nie geschrieben, weil wir ja eh inklusiv sind, aber wir wollten das auch noch einmal bewusst erwähnen.
Wie definierst Du Behinderung?
Wir haben doch alle eine Form von Behinderung. Sei es, dass wir eine Sehbehinderung oder eine seelische Behinderung haben. Jeder hat das. Ich finde das Wort gar nicht gut, aber in unserem westlichen Dualismus brauchen wir es. Menschen mit Beeinträchtigung geht auch – es gibt ja auch diese positiven Formulierungen wie Menschen mit besonderen Merkmalen, besonderen Eigenschaften, besonderen Qualitäten – das gefällt mir eigentlich besser. Aber, wenn man einen Antrag an die Aktion Mensch schreibt, muss man dort Menschen mit Behinderung schreiben, sonst gerät man in Erklärungsnot. Aber grundsätzlich gibt es das für mich nicht. Ich bin aufgewachsen mit einer psychisch erkrankten Mutter und einem ebenso psychisch kranken Bruder – das war für mich normal. Wahrscheinlich war das mein Motivator für das Festival. Diesen Menschen einen Raum geben – da habe ich einfach Spaß dran. Aber auch an großen Herausforderungen wie unser Demenzprojekt, wo die Angehörigen später geschrieben haben: Großartige schauspielerische Leistung – toll, dass Ihr das gemacht habt. Natürlich haben wir auch ganz böse E-Mails bekommen: Wie können Sie es wagen, Herr Emmerich, Menschen mit einer Demenzerkrankung auf die Bühne zu stellen. Menschen mit Demenz sind für mich in einer anderen Form der Spiritualität. Dass die Demenz genannt wird, ist doch wieder nur eine Einordnung in unsere westlichen dualen Werte.
Was bedeutet für Dich Inklusion im künstlerischen Bereich?
In jedem Schauspiel und in jedem Film sollte das ganze Portfolio normal sein. Julia muss nicht blond, hübsch und groß sein – dann ist sie eben mal kleinwüchsig – darüber sollte man gar nicht mehr nachdenken. Darum mache ich das. Dass es eine Sängerin und Schauspielerin ohne Arme und Beine mit einer genialen Stimme und Präsenz gibt, das berührt mich, weil es so eine Kraft und besondere Qualität hat. Ich habe immer den Wunsch, dass alles ganzheitlich möglich ist, und Menschen ein Raum gegeben werden kann, egal welche Identität, Sexualität, Nationalität oder Form von Benachteiligung/Behinderung sie haben. Das ist mein Lebenstraum und der Grund, warum ich dieses Festival gegründet habe. Ich habe schon als Kind gesagt: Ich möchte in einer Welt leben, in der jeder so sein kann, wie er ist. Das war immer schon meine Motivation für alles, was ich gemacht habe. Mich begeistert das. Bei unserem Flüchtlingsprojekt „Planet Heimat“ 2017 waren alle gerade frisch in Deutschland und konnten kein Deutsch. Die Flüchtlinge haben sich dann die Texte auf Deutsch angeeignet und so bei uns im Projekt quasi die Sprache gelernt. Das war so ein super Projekt und hat viel Spaß gemacht. Es war auch anstrengend, unterschiedliche Kulturen, Religionen und Sprachen unter einen Hut zu bringen, aber ich sagte: Ihr seid alle gleich. Und wenn dann einer meinte: Ja, der ist aber Christ …, dann antwortete ich: Du bist Moslem, ich bin Atheist, der ist Buddhist. Du bist in Deutschland, und wenn Du nicht akzeptieren kannst, dass hier alle gleich sind, dann bist Du hier verkehrt – und dann geht das. Es war großartig. Mit einigen von den Jungs habe ich immer noch Kontakt.
Was bedeutet für Dich gelebte Inklusion für Menschen, die behindert sind? Hast Du hier ein Beispiel?
Gelebte Inklusion bedeutet, dass man sie in seinem eigenen Umfeld lebt. Ich kann über Inklusion reden, wenn ich aber keine Menschen mit Behinderung/Benachteiligung kenne und in mein Umfeld reinlasse, wird das nicht gehen. Es geht darum, Berührungsängste aufzuheben, Kontakte aufzubauen und Inklusion zu leben. Ich erinnere mich an Gerda König, die Rollstuhlchoreografin von „DIN A 13“, die jetzt das Bundesverdienstkreuz erhalten hat. Als sie ihr erstes Stück gemacht hat, war ich mit einem Freund da, das war so um 2002/2003 – ich hatte gerade mit dem Festival angefangen. Ich war so berührt, aber ich hatte auch Angst. Ich habe dann angefangen, mich mit der Choreografin zu treffen, meine Berührungsängste abgebaut, meine Art zu kommunizieren verändert und habe das Thema Behinderung in mein Leben reingelassen. Und so ist es entstanden, dass ich ihr gesagt habe: Lass uns ein Stück zum Thema Sexualität und Behinderung machen. Hier musste ich viel Überzeugungsarbeit leisten. Ich bin kein Regisseur, aber ich bin Visionär, ich kann Dinge vordenken. Ich sagte ihr: Mit diesem Stück, das wird knallen. Das war dann auch eines der besten Stücke, die sie je gemacht hat.
Welche Erfahrungswerte hast Du, Menschen mit Behinderungen anzusprechen?
Wie gestaltest Du den Umgang mit ihnen?
Das Wichtigste ist es, offen zu sein – die eigenen Defizite zu erkennen und zu erwähnen. Als Caster*in z. B. zu sagen: „Ich habe noch nie eine Kleinwüchsige besetzt. Auf was soll ich da achten, oder was ist Dir wichtig?“ – einfach ehrlich und authentisch. Vor fünf Jahren haben wir unser erstes großes Projekt mit transidentischen Menschen gemacht. In dem Projekt habe ich so viel gelernt von Transmännern und Transfrauen, weil wir ganz viele Geschichten und Themen immer wieder verhandelt haben. Das hat sich auf der persönlichen Ebene, auch auf Vertragsebene, in der künstlerischen Umsetzung und der Plakat- und Fotoauswahl gezeigt. Wichtig war meine persönliche Bereitschaft und Offenheit zu sagen: Sorry, da habe ich noch nie drüber nachgedacht, das ist mir noch nie begegnet. Ein Beispiel zur Plakatauswahl: Die Künstler*innen haben einen ganz anderen Blick, was das Plakatmotiv angeht, als wir – ich als Mann oder Du als Frau. Wir mussten respektieren, dass wir das Plakat, das wir ausgewählt hatten, nicht nehmen konnten. Wir hatten ein Bild von einer Transfrau, das den Beteiligten zu sexistisch war. Wir haben das gar nicht so gesehen, aber wir haben komplett neu angefangen – den Grafiker beauftragt, neue Motive gesucht und in großer Runde besprochen. Ich musste auch lernen, dass die Künstler*innen unglaublich viele Ängste haben, dass man sie nicht auf der Bühne ausstellen darf. Ich sagte: Wir schützen Euch – es kommt nur das auf die Bühne, was ihr freigegeben habt. Dennoch haben wir zwei Tage vor der Premiere eine Szene rausgenommen, weil die Schauspielerin sagte: „Ich kann damit nicht rausgehen. Ich schaff das nicht.“ Ok cut … neue Szene rein oder kürzen. Das kann ich glaube ich ganz gut: vermitteln.
Bist Du für oder gegen Gendersternchen/Doppelpunkt?
Das haben wir im Team auch rauf und runter diskutiert und haben uns für den Doppelpunkt entschieden. Ich habe da auch eine private Meinung. Ich komme aus einer anderen Zeit - 1956 geboren – und frage mich: Muss man das wirklich so machen? Aber es haben einige Frauen zu mir gesagt: „Rolf, Du bist ein Mann, und wir haben eine sehr patriarchalische Sprache.“ Das stimmt, und ich verstehe, es geht auch darum, Bewusstsein zu verändern. Wir machen uns auf einen Weg, wenn wir sagen Künstlerinnen und Künstler oder Darsteller:*innen, Doppelpunkt oder Sternchen, das leuchtet mir ein. Warum müssen die meisten Wörter männlich besetzt werden? Das war für mich das überzeugende Argument. Wir gendern schon seit Jahren. Ich hätte es bei Sternchen gelassen, aber einer unserer Experten, der fast blind ist und mit seiner Firma blinde Menschen mit Technik für Computer ausstattet, meinte: „Geht auf Doppelpunkt. Für blinde Menschen ist das besser zu verstehen.“ Das war der sachliche Grund. “ Wir hatten aber auch einen 82-jährigen Schauspieler in der „Winterreise“. Der schickte mir eine E-Mail: „Lieber Rolf, ich schätze Dich und das Festival sehr, aber ich möchte nicht Darsteller:in genannt werden. Ich bin der Herrmann und ich will Darsteller genannt werden.“ Danach ging die Diskussion los, es dennoch so zu lassen, aber der Mann ist 82 Jahre alt – da machen wir kein Fass auf und ändern wieder auf Darsteller. Den kriegen wir sonst nicht mehr eingefangen. Ich finde die Diskussion an vielen Punkten zu extrem, kann aber den politischen Kontext total verstehen.
Ein wichtiges Thema ist Barrierefreiheit. Magst Du uns hierzu was erzählen?
Wir bauen jetzt ein Team für Barrierefreiheit auf. Dieses Team begleitet alle Projekte des Festivals für zwei Jahre: ein Blinder, ein Gehörloser, ein Lernbehinderter und wer immer da noch mitmachen möchte. Einer aus diesem Team ist immer auch bei unseren Organisationsbesprechungen dabei, damit sich diese Themen verankern. „Sommerblut“ fand im Mai 2021 digital statt. Wir hatten mit „Gather Town“ (ein Produkt der Gaming-Szene) eine virtuelle Festivalstadt auf unserer Webseite, mit Lobby, Foyer und Bühne. Und das Ganze auch noch barrierefrei. Das kannten selbst die Programmierer*innen von „Gather Town“ nicht. Es mussten weitere Tools programmiert werden, damit es z. B. für Blinde möglich war, teilzunehmen. Das hat uns wahnsinnig viel Geld und Arbeit gekostet. Zwei von unseren Leuten haben Tag und Nacht daran gearbeitet.
Kommen wir zu Kosten und auch Gagen. Inwieweit hast Du da Erfahrungswerte?
Die wichtigste Forderung, die wir auch gegenüber Politik, Land und Stadt immer wieder formulieren: Barrierefreies künstlerisches Arbeiten bedeutetet, dass im Budget eines Films, eines Stadttheaters oder eines Museums auch Geld für räumliche und inhaltliche Barrierefreiheit zur Verfügung gestellt werden muss. Gelder für Assistenz, Gebärdensprach-dolmetscher, leichte Sprache und Audiodeskriptionen müssen bereits von Beginn der Planungen an mitbedacht werden, auch wenn man noch nicht weiß, wie viele Behinderte daran teilnehmen werden. Da braucht es einen Paradigmenwechsel, denn die Realität ist, dass es dafür keine Budgets gibt, dass man diese immer wieder in den Projekten hart erkämpfen muss. Die Bezahlung läuft oftmals schwierig, weil man sich mit staatlichen Systemen arrangieren und Wege finden muss, dass die Protagonisten in Hartz IV bleiben und ein Honorar von 1.000 Euro auf mehrere Monate aufgeteilt werden kann, um unter der Zuverdienstgrenze zu bleiben. Ich riskiere was für die Menschen mit Behinderung und habe in fast jedem Projekt Rechnungen und Verträge passend machen müssen, um sie im Projekt zu halten. De facto ist es im Einzelfall immer schwierig, kreative Lösungen zu finden, aber wir gehen den Weg. Gleichzeitig ist es eine Forderung an die Systeme, flexibler zu werden und entsprechende gesetzliche Änderungen vorzunehmen. Ich kann für „Sommerblut“ nur sagen: Alle Künstler*innen haben ihr Honorar immer voll bekommen, wir haben immer Wege gefunden, und ich habe noch nie jemanden abgelehnt, weil das System nein gesagt hat. Es kann nicht sein, dass ein*e Profi-Schauspieler*in im Film 2.000 Euro bekommt und ein*e Behinderte*r 200 Euro, weil er oder sie in Hartz IV ist.
© Sommerblut
www.sommerblut.de | www.rolfemmerich.de
Telefon: | 0221 - 94 65 56 20 |
E-Mail: | info@casting-network.de |
Bürozeiten: | Mo-Fr: 10:00 - 18:00 Uhr |
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