PRELUDE
Unsere Reihe „Filmländer weltweit“
geht in die zweite Runde:
Letztes Jahr starteten wir mit dem „Filmland China“. Als Interviewpartner stand uns Volker Helfrich, der als deutscher Schauspieler in China Fuß gefasst hat, zur Verfügung.
In diesem Jahr nehmen wir das „Filmland Russland“ unter die Lupe.
Für das Interview standen uns die Schauspieler Katharina Spiering und Markus Kunze, die nicht nur vor Ort arbeiten, sondern auch hervorragende Russland-Kenner sind, Rede und Antwort.
Im Zeitraum von Ende November 2013 bis Anfang April 2014 entstand nach mehreren Vorgesprächen das folgende Interview, welches Tina Thiele mit den beiden Schauspielern gemeinsam auf der Berlinale 2014 führte. Auch hier standen erneut die persönlichen Eindrücke rund um Arbeitsweisen und Unterschiede im Vergleich von Russland zu Deutschland im Mittelpunkt des Gespräches.
Julius Dasche hat zudem mit freundlicher Unterstützung des in Deutschland beheimateten Russland-Experten Nikolaj Nikitin einige Fakten über Russland als Filmland zusammengetragen.
FAKTEN ZUM FILMLAND RUSSLAND
Der Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der Neunziger Jahre war auch für die traditionsreiche russische Filmindustrie ein tiefer Einschnitt. Der überwiegende Teil der Produktionsfirmen und Filmtheater ging unter. Doch nach dem Motto „in jedem Abschied steckt ein neuer Anfang“ erholte sich das russische Kino relativ schnell. Schon in der ersten Hälfte des neuen Jahrtausends stieg die Zahl der Kinos wieder sprunghaft an und junge russische Filmemacher, oft inspiriert vom großen russischen Regisseur Andrei Tarkowski, eroberten die internationalen Festivals.
Seinen kommerziellen Durchbruch schaffte das russische Kino im Jahr 2004 mit seinem ersten Blockbuster „Night Watch“ (Casting: Tamara Odintsova) von Regisseur Timur Bekmambetov. Der auf einer Romanvorlage von Sergej Lukianenko basierende Fantasy-Action-Film war ein Startschuss für weitere aufwendig gemachte, stark an Hollywood orientierte Produktionen.
Garant für Publikumserfolge ist neben Timur Bekmambtov auch Regisseur und Produzent Fyodor Bondarchuk. Vorläufiger Höhepunkt des kommerziellen russischen Kinofilms ist sein in 3D gedrehter Kriegsfilm „Stalingrad“ (Casting: in eigener Regie) aus dem Jahr 2013, der in den ersten sechs Wochen fast 67 Millionen Dollar einspielte.
Das russische Publikum weiß diese Art des Kinos offenbar sehr zu schätzen. Es beschert den heimischen Filmen einen Box-Office-Umsatz von 20 bis 25 Prozent jährlich. Dennoch wird das russische Kino stark von amerikanischen Produktionen dominiert. Insgesamt wurden im Jahr 2012 auf dem russischen Kinomarkt insgesamt rund 1,2 Milliarden Dollar umgesetzt.
Auch das nichtkommerzielle Arthousekino hat in Russland seinen festen Platz. International hoch geschätzte Filmemacher wie Andrei Zvyagintsev, Alexander Sokurov oder Alexander Mindadze knüpfen in ihren Werken an die große russische Filmtradition an.
Allerdings wird in Russland, wie in allen großen Filmländern, das künstlerisch anspruchsvolle Kino vom Publikum nur wenig beachtet. Es lässt sich beobachten, dass die Zuschauer sehr stark von einem Kino angezogen werden, das in einer Fantasiewelt oder glorifizierten Vergangenheit stattfindet. Realitätsnahe Filme haben es hingegen sehr schwer.
Umso bemerkenswerter ist es, dass es diese Filme dennoch gibt, denn eine staatliche Förderung gerade auch schwieriger Sujets, wie wir sie in Deutschland mit regionalen und nationalen Förderanstalten und TV-Sender-Engagements kennen, ist in Russland eher selten. Zwar gibt es mit dem nationalen Cinema-Fond einen finanzkräftigen Partner für die russische Filmwirtschaft, jedoch liegt der Förderfokus dort eher auf kommerziellen und patriotisch angehauchten Projekten.
Bereits seit einiger Zeit plant die russische Regierung, eine Kinoquote für einheimische Filmproduktionen einzuführen. Was ursprünglich als Maßnahme zur Stärkung der russischen Filmwirtschaft nach französischem Vorbild gedacht war, wird angesichts der Spannungen um die Ukraine zunehmend zum Politikum. „Bei uns werden vor allem amerikanische Filme gezeigt, die Stereotypen, nationale Interessen und Werte der USA propagieren“, sagte unlängst der Duma-Abgeordnete und Produzent Robert Schlegel von der Regierungspartei Geeintes Russland. Im Gespräch ist nun eine Quote von bis zu 50 Prozent, wie es sie zuletzt zu Sowjetzeiten gab.
Die erfolgreichsten russischen Filmstarts aller Zeiten:
Platz |
Titel |
Land |
Regie |
Umsatz Startwoche in Mio $ |
1 |
Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides (3D) |
USA |
Rob Marshall |
26,7 |
2 |
Iron Man 3 |
USA |
Shane Black |
23,1 |
3 |
The Twilight Saga: Breaking Dawn Part 2 |
USA |
Bill Condon |
21,9 |
4 |
Avatar |
USA/GB |
James Cameron |
19,7 |
5 |
Shrek Forever After |
USA |
Mike Mitchell |
19,6 |
6 |
The Hobbit: An Unexpected Journey |
USA/NZ |
Peter Jackson |
17,9 |
7 |
Fast & Furious 6 |
USA |
Justin Lin |
17,8 |
8 |
Viy 3D |
Russland |
Oleg Stepchenko |
17,1 |
9 |
Transformers 3 |
USA |
Michael Bay |
17 |
10 |
MIB 3 |
USA |
Barry Sonnenfeld |
16,9 |
17 |
Stalingrad |
Russland |
Fyodor Bondarchuk |
16,3 |
Quelle: boxofficemojo.com
STECKBRIEF: Katharina Spiering
Jahrgang: 1974
Geburtsort: Berlin
Wohnort: Berlin
Ausbildung: Absolventin der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin
Agenturkontakt: www.hoestermann.de
STECKBRIEF: Markus Kunze
Jahrgang: 1974
Aufgewachsen: in Kohren-Sahlis, südlich von Leipzig
Wohnort: Berlin
Ausbildung: Schauspielstudium an der Staatl. Akademie für Theaterkunst, St.Petersburg (Diplom)
Schauspiel- und Regiestudium an der Tsarskoje-Celo-Filiale/Staatliche Theaterakademie St.Petersburg
Studium der Theaterwissenschaften, Germanistik und Soziologie an der Universität Nürnberg
Agenturkontakt: www.sascha-wuensch.de
Ihr beide arbeitet als Schauspieler in Deutschland und Russland. Wie kam es dazu?
Markus K.: Ich studierte Mitte der Neunziger Jahre an der Universität Nürnberg Theaterwissenschaften und Germanistik, als ich mit unglaublich guten Off-Theatergruppen aus Russland in Kontakt kam. Diese tourten damals durch Europa und spielten auf Festivals, wo sie viele Preise erhielten.
Da mein Herz dafür schlug, auch als Schauspieler auf der Bühne zu stehen, wollte ich dorthin, wo diese Leute ihre Ausbildung gemacht hatten. Also packte ich nach Beendigung des Grundstudiums einfach meinen Seesack und ging für ein halbes Jahr als Regieassistent nach St. Petersburg, ans Interstudio. Aus dem geplanten halben Jahr wurden dort letztlich vier Jahre Schauspielstudium an der Staatlichen Theaterakademie.
Die Verständigung war natürlich zunächst schwierig. Zwar hatte ich als „Ossi“ in der Schule Russisch gehabt, aber am Ende meiner Schulzeit konnte ich bis auf die drei üblichen sozialistischen Phrasen nicht wirklich etwas sagen.
Wie gut ist Dein Russisch heute?
Markus K.: Heute ist mein Russisch fließend.
Wenn ich viel in Russland arbeite, verringert sich mein Akzent. Man hört nicht, dass ich Deutscher bin. Häufig denken die Leute, ich käme aus dem Baltikum. Als „Vollrusse“ gehe ich sicher noch nicht durch - auch wenn ich hin und wieder dafür gecastet werde.
Magst Du, Katharina, uns nun Deine Russland-Geschichte erzählen?
Katharina S.: Meine Geschichte mit Russland beginnt bereits im Bauch meiner Mutter. Meine Eltern lebten in der DDR, und mein Vater hatte, ohne zu wissen, dass es mich geben wird, einen fünfjährigen Vertrag als Physiker in Dubna unweit von Moskau unterschrieben. Nachdem sie erfuhren, dass ich unterwegs war, haben meine Eltern geheiratet, und wir gingen nach Russland. Die ersten Jahre meines Lebens habe ich somit in Russland verbracht. Danach kehrten wir zurück nach Berlin. Dort verdrängte ich Russland und die russische Sprache, um in Deutschland anzukommen. Später lernte ich wie alle Kinder im Osten Russisch in der Schule, ohne mich wirklich dafür erwärmen zu können. Noch während meines Abis kam es in Frankreich zu einer zufälligen, aber für mich bedeutenden Begegnung mit einer Gruppe von Russen, die ihr Akkordeon auspackten und russische Lieder sangen. Ich war überwältigt, fühlte mich in diesen Liedern unglaublich zuhause und im Tiefsten meiner Seele berührt. Für mich stand fest: Ich wollte in das Land, in dem solche Lieder gesungen werden. So absolvierte ich ein Soziales Jahr oder vielmehr 1,5 Jahre in Moskau, wo ich Down-Syndrom- Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen betreute. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich dann an der Ernst Busch Schauspiel studiert. Eigentlich wollte ich in Russland studieren. Dies war als Ausländerin jedoch nicht so einfach: Allein die Schulkosten betrugen Mitte der 90er für Ausländer in allen Moskauer Hochschulen um die 5.000 Dollar jährlich, die ich einfach nicht hatte. Auch wurden Ausländer damals in den klammen Moskauer Hochschulen zur Erhöhung des Etats ohne Betrachtung der Talentfrage immatrikuliert – mir aber war eine Aufnahmeprüfung wichtig. In einer der Schulen, die ich abgeklappert hatte, machte man mir folgendes Angebot: „Wir haben hier gerade eine Ausländerklasse mit Koreanern aufgemacht. Dort können Sie rein.“
Wie würdest Du Dein Russisch heute einschätzen?
Katharina S.: Mein Russisch geht heute als akzentfrei oder mit mitunter leichtem, undefinierbarem Akzent durch – oft erkennen Russen nicht, dass ich Deutsche bin. Das liegt wohl an den frühen Kinderjahren in Russland und meinen häufigen, langen Besuchen dort, vor allem aber an den anderthalb Jahren Leben in Moskau. In dieser Zeit bekam ich Sprachpraxis und mein Russisch wurde so gut, wie es heute ist. Einerseits entsprang dies dem Wunsch, keine Fremde unter den Russen sein zu wollen, andererseits war das manchmal auch eine Überlebensfrage: Wenn Du irgendwo ein Zug-, Museums- oder ein Theaterticket kaufen wolltest und dies in akzentfreiem Russisch geordert hast, dann kostete Dich das einfach nur ein Drittel gegenüber Ausländern.
Markus K.: Recht hilfreich fürs tägliche „Überleben“ ist es auch, wenn man auf Russisch fluchen kann (lacht)!
Als ich noch studierte, passierte mir beim Zoll folgendes: Ich hatte Geschenke dabei und sie wollten mich damit nicht durchlassen. Die Diskussion lief so lange, bis ich anfing, die wildesten russischen Flüche loszulassen, worauf dem Beamten der Kiefer runterklappte und ich sofort gehen konnte.
Ist es schwierig, in Russland Fuß zu fassen?
Katharina S.: Irgendwann mit Mitte 30 kam mir der Gedanke: „Ich bin Schauspielerin. Ich spreche perfekt Russisch und liebe so vieles an Russland – auch die Schauspieltradition und das russische Kino. Ich möchte da arbeiten!“
Ganz klar muss die schauspielerische Leistung stimmen, dennoch wissen wir alle, dass in Deutschland in den seltensten Fällen Besetzungen über persönliche Bekanntschaften oder Freundschaften entstehen. In Russland passiert das sehr viel häufiger.
So habe ich neben ausgiebiger Internetrecherche – die nicht nur seriöse Seiten zu Tage förderte – auch russische Schauspielerfreunde wie Markus gebeten, mir Kontakte zu geben und für mich ein Wort einzulegen.
Ich bin hingefahren, habe ganz frech den Telefonhörer in die Hand genommen und gesagt „Hallo, ich bin Katharina. Ich bin Schauspielerin, ich komme aus Berlin, ich bin Deutsche, ich würde mich gerne mal bei Ihnen vorstellen.“ Das Erstaunliche war, es gab niemanden, der „Nein“ oder „Ich habe keine Zeit“ gesagt hat. Ich war drei Wochen in Moskau und konnte in diesen drei Wochen alle Leute, die ich vorhatte zu treffen, auch treffen. Wirklich alle! Das lag einerseits an den Empfehlungen meiner Freunde, aber offensichtlich war auch ein enormes Interesse vorhanden.
Markus K.: Viel schwerer ist es dann, den Kontakt zu halten. Denn, um diese Bekanntschaften und Freundschaften zu pflegen, muss man auch sehr viel Zeit in der Szene verbringen. Das ist ein Aspekt, warum es als Ausländer schwieriger ist, dort Fuß zu fassen. Des Weiteren ist Russland ein Land, das Visum-Pflicht hat und oftmals sehr chaotisch ist. Oft kommt es zu Verschiebungen. Es kann zum Beispiel sein, dass man einen Casting-Termin hat, sich ein Visum geholt hat und 12 Stunden vorher einen Anruf erhält: „Wir haben das Casting um drei Wochen verschoben“. Da ist dein Visum dann aber schon abgelaufen und das Flugticket sowieso.
Was waren Deine ersten Schritte in der russischen Medienlandschaft?
Markus K.: Im Film- und Fernsehbereich habe ich natürlich in all den Jahren in Russland viel mehr gedreht als in Deutschland. Das hat bei mir ganz klar damit zu tun, dass ich in Russland studiert habe. Als Student an der Theaterakademie bin ich irgendwann mal jemanden aufgefallen: sie baten mich für einen Spielfilm die russische Hauptrolle, einen deutschen Journalisten, nachzuvertonen.
Sie mochten meine Arbeit und so kam die Produktionsfirma kurze Zeit später wieder auf mich zu und buchte mich dann auch als Schauspieler – gleich für eine Hauptrolle in einem Krimi. So ging das los.
Katharina S.: Ich habe lustigerweise noch während meiner ersten „beruflichen“ Reise einen Drehtag als russische (!) Nachbarin eines Mordopfers gehabt. Die haben mir einfach eine Chance gegeben, weil sie merkten, dass ich wirklich daran interessiert bin, zu erfahren, wie in Russland gearbeitet wird. Eine kleine Rolle, aber ein Eintauchen in eine neue, spannende Welt. Nun spiele ich gerade meine erste große Rolle in Russland – eine Deutsche, die in den 30er und 40er Jahren in Stalins Mühlen gerät.
Welche Art der Rollen bekommst Du in Russland und welche in Deutschland?
Markus K.: Puh! Das ist schwer...
Katharina S.: Soll ich das mal für Dich beantworten? (Kräftiges Nicken!!!)
Interessant zu sehen ist, dass Markus in Russland sowohl für Deutsche als auch für Russen vorgeschlagen wird und auch Deutsche und Russen spielt. Typen, die einerseits wahnsinnig hart sein müssen, auf der anderen Seite aber auch eine große Empfindsamkeit haben.
Interessant, wie Du die Rollen beschreibst. Hierzulande würde man doch eher typisieren, bspw. den „Politiker“ oder „Wissenschaftler“ als Beschreibung nutzen. Du gehst vielmehr auf die innerliche Beschreibung, was ich total faszinierend finde. Wie werden Drehbücher in Russland geschrieben. Ist da so eine tiefenpsychologische Ebene oder steht da einfach: Victor, 18 Jahre, sibirischer Dialekt?
Markus K.: Stimmt. Die psychologische Ebene, die Du ansprichst, ist schon ein wichtiger Aspekt in den Rollenbeschreibungen. Das hängt sicherlich auch mit der reichen Theatertradition zusammen, an die die Film- und Fernsehwelt und ihre Drehbücher anknüpfen.
Stimmt denn Katharinas Einschätzung? Welche Rollen spielst Du am liebsten?
Markus K.: Sie hat schon Recht: In meinen ersten beiden Rollen habe ich schon recht ambivalente Charaktere gespielt: Russen im Mafia-Milieu, Love Story und Knast – alles dabei. Diese Gegensätzlichkeit beschreibt ganz gut mein Rollenspektrum.
Eine meiner schönsten Produktionen war eine für den ersten russischen Fernsehkanal: ein Zweiteiler mit kleinen historischen, dokumentarischen Einsprengseln. Er handelte von George Blake, einem der berühmtesten Spione des 2. Weltkrieges. Den habe ich gespielt.
Natürlich spiele ich viele Deutsche. Auch ein amerikanischer Politiker war dabei. Oder vorletztes Jahr spielte ich sogar einen internationalen Terroristen, den eine Liebesgeschichte mit einer Frau aus einer russischen Spezialeinheit verband. Und auch hier wieder: Der Harte und doch der Liebenswerte.
Sympathisches Arschloch eben.
Wie sieht es denn bei Dir aus, Katharina?
Katharina S.: Ich bin zwar Deutsche, bekomme aber in Russland erstaunlicherweise sowohl deutsche als auch russische Frauenrollen angeboten – vielfach auch historische Rollen, die ich besonders liebe. Aber natürlich bekomme ich vorwiegend Deutsche angeboten – Russland ist reich an wunderbaren Schauspielerinnen, die Russinnen spielen können, da holt man sehr selten eine Schauspielerin extra aus Deutschland.
Gibt es in Russland Schauspieleragenturen wie in Europa oder sogar so ausgereift wie in den USA ein Agenten-Management-PR-System?
Katharina S: Für mich war es schwer, das russische Agentursystem zu verstehen. In Deutschland ist es doch so, dass eine Schauspielagentur einen Klienten exklusiv vertritt. Es gibt nicht das System, dass ein Schauspieler bei mehreren Agenturen ist – Auslandsagenturen ausgenommen. In Russland gibt es, wie ich festgestellt habe, doch sehr viele Agenturen die Klienten aufnehmen, aber nichts dagegen haben, wenn der Klient noch von einer oder mehreren anderen Agenturen vertreten wird. Das macht vielfach für die Schauspieler auch Sinn, da viele Agenten auch als Caster arbeiten und natürlich gern ihre eigenen Klienten oder die Klienten befreundeter Agenturen vorschlagen. Oder da viele Caster bevorzugt mit einigen Agenturen arbeiten. Oftmals führt dies natürlich aber auch zu Unklarheiten und großen Problemen.
Es gibt also „Agenturen“, die paradoxerweise auch als Caster arbeiten?
Markus K.: Als ich in Russland studiert habe, gab es noch keine Agenten. Es gab solche, die ein Archiv mit allen Schauspielern hatten und auch anboten zu casten, was bis heute zu einer Mischform von Agent und Caster führte. Diese Form gibt es in Russland immer noch, ist aber heute vom professionellen Anspruch her nicht das, wo die Branche hin will und wie Schauspieler sich vertreten lassen wollen. Dennoch gibt es „Agenturen/Karteien“, in die sich Schauspieler eintragen können. Die, die nicht seriös sind, fordern sogar Geld dafür und verlangen nochmal Geld, wenn es zu einer Vermittlung kommt.
Aber mittlerweile gibt es ganz klar Agenturen, die professionell arbeiten und ihre Schauspieler exklusiv vertreten. Und so gibt es auf der anderen Seite auch den Beruf des Casting Directors.
Spannend! Magst Du die russische Casting Director-Szene beschreiben?
Markus K.: Der Beruf des „freien Casting Directors“ ist meiner Meinung nach um die Jahrtausendwende entstanden. Vielfach haben sich frühere Regieassistenten aufs Feld des Castings als Dienstleister spezialisiert und arbeiten teilweise frei oder nur für bestimmte Produktionsfirmen. Wobei man sagen muss, dass die hausinternen Castingabteilungen der großen Filmstudios wie Mosfilm oder Lenfilm eher Verwalter einer riesigen Schauspielerdatenbank sind. Wie viele Casting Directors aktuell auf dem Markt sind, kann ich nur schätzen. Es gibt einfach viele, die als eine Art Caster nur für eine Produktion tätig sind (z.B. dauerhaft eine Serie betreuen). Wirklich freie Casting Directors, die nicht gleichzeitig auch noch als Agenten auftreten, gibt es in Moskau und St. Petersburg ungefähr 15.
Magst Du mal ein Casting in Russland beschreiben?
Katharina S.: Meinen Casting-Erfahrungen nach wird sich sehr viel mehr Zeit genommen als in Deutschland – sowohl fürs Kino als auch fürs Fernsehen. Es kann sein, dass ein Casting schon mal einen halben oder einen ganzen Tag dauert. Der Regisseur ist natürlich anwesend, oftmals habe ich auch erlebt, dass es, vor allem bei historischen Produktionen, schon beim Casting Maske, Kostüm und sogar eine historische Dekoration gab.
Markus K.: Wie ein Casting abläuft, hängt von der Produktion ab.
Wenn ich hinfliege, kann es sein, dass ich durch die Zeitverschiebung noch am Abend zum Casting gehe. Dafür plane ich schon zwei bis drei Stunden ein. Casting bedeutet auch, dass da jemand fürs Make-Up oder fürs Kostüm am Start ist. Der Regisseur ist fast immer da und oft setzen sie bis zu drei Szenen mit drei verschiedenen Partnern/innen an. Das ist dann ein umfangreiches Casting. Je nach Produktion reicht auch mal eine kurze Szene.
Kann man in Russland von der Schauspielerei leben oder sind Künstler Idealisten?
Markus K.:
Eigentlich Idealisten, aber heute weit weniger, weil auch Film- und Fernsehen in Russland ein krasser Markt geworden sind. Natürlich wollen die Leute überall von ihrem Job leben, sonst macht das keinen Sinn. Und das wollen Schauspieler auch. Also ist Geld heute schon sehr ausschlaggebend.
Katharina S.: Es ist ein Überlebenskampf. In der Regel verdient ein Theaterschauspieler in Moskau zwischen um die 750 Euro. Allein eine bescheidene Ein-Zimmer-Wohnung am absoluten Rand der Stadt, wo du noch eine Stunde mit dem Bus hinfährst, kostet mindestens 500 Euro Miete. Da aber die Theater auch begreifen, dass ihre Schauspieler ja von etwas leben müssen, ermöglichen sie Dreharbeiten bereitwilliger als Theater in Deutschland. Schauspieler, die viel drehen, können gut davon leben, aber dieses Glück haben, wie bei uns auch, nicht alle. In Moskau wird aber sehr viel gedreht, das ganze Jahr hindurch, sodass es viel Arbeit gibt – aber es gibt eben auch viele Schauspieler.
Markus K.: Ganz klar, dennoch gibt es mittlerweile auch einige Theater, die regelmäßig und besser zahlen.
Wie sieht die Bezahlung im Filmbereich aus?
Katharina S.: Im Filmbereich ist die Gage niedriger als in Deutschland. Man kann in Russland auch mal mit einer Gage von 100 Euro nach Hause gehen. Nach oben hin gibt es wie bei uns keine Grenzen, aber eine mittlere Gage würde ich bei 500 bis 1.000 Euro sehen. Anders als in Deutschland sind Schauspieler die Einzigen am Set, die Überstunden bezahlt bekommen. Überstunden ist alles, was über 12 Stunden hinausgeht.
Markus K.: Man muss entsprechend hoch verhandeln, aber das heißt nicht, dass man diese Gage dann auch bekommt. Manchmal hängt die Höhe der Gage davon ab, ob man Hotel oder Flug selber zahlt.
Ein Zahlenbeispiel: Ich weiß, dass bei einem historischen TV-Mehrteiler, für den ich gedreht habe, eine sehr bekannte Schauspielerin für ihre Hauptrolle ca. 1000 Euro pro Drehtag erhalten hat.
Lasst mich abschließend noch ein paar allgemeine Fragen zur russischen Theater-, Film- und Fernsehlandschaft stellen. Wie viele Schauspielschulen gibt es in Russland?
Katharina S.: Die großen und wichtigen staatlichen Theaterakademien befinden sich in zwei Städten: in Moskau - hier sind es fünf - und in St. Petersburg – hier sind es zwei. Es gibt auch in anderen größeren Städten staatliche Hochschulen. Private Workshops und Kurse zur Fortbildung entstehen jetzt so langsam immer mehr. Private Schauspielschulen wie in Deutschland gibt es aber nicht.
Ist es denn wirklich so, dass die meisten russischen Schauspieler an einer Schauspielschule gewesen sind?
Markus K.: Russland ist ein Land großer Schauspielschulen. Ja, die meisten waren auf einer.
Hier existiert eine lange Tradition und eine respektvolle Einstellung gegenüber dem Beruf des Schauspielers. Ich glaube, kaum jemand würde sich in Russland als Schauspieler bezeichnen, wenn er es nicht studiert hätte.
Gibt es eine Unterteilung zwischen Kino- und Fernsehschauspielern sowie Theaterschauspielern?
Katharina S.: Nicht so wie in Deutschland. In Moskau gibt es allein 166 Theater, davon sind um die 50 Staatstheater. Bis auf wenige Ausnahmen ist es in Deutschland so, dass man sich entscheiden muss „Drehe ich oder gehe ich fest ans Theater“. Das ist in Russland anders. Jedes Theater weiß, dass, wenn sie ihren Schauspielern keine Freiheiten geben, diese dann vielleicht weg sind. Sie wollen keine unglücklichen Schauspieler. Und, wie gesagt, viele Theaterschauspieler brauchen das Geld aus Dreharbeiten zum Überleben.
Markus K.: Eine Unterteilung zwischen Kino- und Fernsehschauspieler gibt es in Russland weniger. Jetzt noch weniger. Vor der Krise gab es Leute, die nur Kino gemacht haben. Heute geht es darum, beschäftigt zu sein und alle Möglichkeiten auszunutzen.
Wie sieht die russische Film- und Fernsehlandschaft aus?
Katharina S.: Fernsehen ist das Hauptinformationsmedium in Russland, und es wird viel ferngesehen. Die Leute gehen aber auch viel ins Kino, ich wundere mich jedes Mal, wenn ich nach Moskau komme, dass es so unglaublich viele Kinos unterschiedlichster Ausrichtung gibt. Im Wesentlichen aber laufen in diesen Kinos die Blockbuster – amerikanische wie russische – erfolgreich. Das Arthousekino hat es auch in Russland schwer.
Markus K.: Die Leute schauen auch alles über das Internet, weil es in Russland in der Form kein Film-Copyright gibt.
Katharina S.: Aber auch hier gibt es erste Ansätze, dagegen anzugehen. Sowohl über neue Gesetze als auch dadurch, dass erste kostenpflichtige Internetangebote entstehen und, wenn auch zögerlich, genutzt werden.
Gibt es ein öffentliches und privates Fernsehen?
Katharina S.: Ja, es gibt staatliche und private Sender.
Gibt es ein Förderungssystem für das Kino?
Katharina S.: Wie in Deutschland gibt es in Russland staatliche Förderung. Die Russen haben noch etwas, was wir – von Crowdfunding abgesehen - so gar nicht haben: ein ausgeprägtes Sponsoren-System. Dies kann natürlich den Nachteil haben, dass der „Mäzen“ abspringt und der Film nicht weiter gedreht werden kann. Es gibt Filme, die deswegen nur halb oder gar nicht gedreht werden.
Markus K.: Mittlerweile ist es aufgrund der Finanzkrise schwieriger.
Dann gibt es gar keinen Unterschied zwischen Kino und TV?
Katharina S.: Doch. Kinofilme haben, wie auch hier, andere Qualitäten. Auch ist es in Deutschland ja so, dass du fast keinen Kinofilm mehr machen kannst, ohne einen Fernsehsender dabei zu haben. Das ist in Russland anders. Fast alle Kinofilme entstehen ohne Beteiligung des Fernsehens. Diese Verknüpfung von Kino und Fernsehen gibt es bis auf seltene Ausnahmen in Russland nicht.
Könnt ihr denn auch, dem Klischee entsprechend, Wodka bis zum Umfallen trinken?
Katharina S.: Den deutschen Vorstellungen entsprechend ja.
Markus K.: Bis zum Umfallen auf jeden Fall. Es ist nur die Frage, wie schnell man umfällt.
Wenn du am Winteranfang draußen noch eine Spätsommer-Szene spielst, dann bist du wirklich froh, wenn du am Ende des Drehtages einen Wodka bekommst.
Was liebt Ihr an Russland und was weniger?
Markus K.: Nach einem halben Jahr meines ersten Aufenthalts brach die Wirtschaft zusammen. Meine Kommilitonen hatten nicht mal das Geld für eine Suppe. Dies war Ende der Neunziger und es herrschten chaotische Zustände. Doch gerade in dieser Zeit lernte ich das Land wertschätzen, den deutschen Pass zu vergessen und mich auf das Leben einzulassen. Das war für mich die Möglichkeit, eine sehr intensive und glückliche Zeit zu erleben und einfach zu erspüren, was dieses Land ist, weil man es sonst nicht verstehen kann. Gerade im Kontext der kommenden Olympischen Spiele wird versucht, diese wirklich sehr gegensätzlichen Seiten - politische und wirtschaftliche Entscheidungen und das, was da mit Menschen passiert - zu analysieren und zu diskutieren. Man kann es nicht verstehen. Sobald man versucht, es zu verstehen, verzweifelt man daran.
Katharina S.: Dazu passt doch das berühmte Gedicht von Fjodor Tjutschew: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Daran muss ich oft denken, wenn ich in Russland bin. Ich liebe an Russland seine Menschen, ihre Tiefe, ihre Warmherzigkeit, ihre Bildung – jeder Russe kann (nicht nur die russischen) Klassiker zitieren und mehr als eine Strophe von vielen Liedern singen, ihre Fähigkeit, im Heute zu leben und ihre Fähigkeit zu bedingungsloser Freundschaft. Andererseits verzweifle ich oft am Langmut und der Fähigkeit der Menschen, so vieles zu erdulden. Auch meine deutsche Organisiertheit und Disziplin haben in Russland zu kämpfen, aber andererseits empfinde ich das russische Chaos mitunter auch als Inspiration, mal loszulassen. Und die Russen sind Meister im Improvisieren und retten dann doch jede chaotische, verfahrene Situation in letzter Minute. Für einen hohen Adrenalinspiegel ist in Moskau immer gesorgt, langweilig wird es nie. Russland ist ein wunderschönes, weites Land mit einer überwältigenden Natur, durch Russland zu reisen war mir immer ein großes Vergnügen. Womit ich momentan in Moskau ein Problem habe, das ist der Hyperkapitalismus, der dort herrscht. Und natürlich bin ich, wie viele meiner russischen Freunde auch, mit der momentanen politischen und sozialen Situation in Russland nicht glücklich. Dennoch überwiegen bei weitem positive Gefühle und Gedanken, wenn ich an Russland denke.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Tina Thiele studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Kulturelles Management in Köln. Sie ist Chefredakteurin von „casting-network. Das Branchenportal”. Mehr zu ihrer Person finden Sie in der Rubrik: Über uns.
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